Wilde Dystopie – „What’s the furthest place from here?“

In der US-Serie „What’s the furthest place from here?“ scheuchen Matthew Rosenberg und Tyler Boss ihre jugendlichen Figuren durch eine skurrile postapokalyptische Welt ohne Erwachsene.

Alabama, Oberon, Mallory, Prufrock und Sid gehören zur Familie der „Akademie“. Jugendbande könnte man sagen, aber das wäre viel zu kurz gegriffen. Denn wir befinden uns in der Zukunft, irgendwann nach dem großen Knall, irgendwo in den Ruinen einer nicht näher bestimmten Stadt. Hier ist die Akademie zu Hause, samt ihrem eigenen Territorium, wie auch andere benachbarte „Familien“ mit Namen wie „Das große Geschäft“ oder „Jungs in Blau“. Alabama ist die Anführerin der Akademie, als Heimat dient ein Lagerhaus, das eine riesige Schallplattensammlung beherbergt. Eines Tages steht Slug vor der Tür. Slug musste die Familie verlassen, da er über 18 ist. Jetzt ist er wieder da, entgegen der Regeln, mit einem Pfeil im Rücken. Dann verschwindet die schwangere Sid und die Akademie macht sich auf, sie zu suchen.

Nach und nach erschließen sich Welt und Setting in dieser wilden Dystopie, die voller origineller Details steckt: Die Familien bestehen allesamt aus Jugendlichen – was mit den Volljährigen passiert, die die Familien verlassen müssen, was überhaupt mit den Erwachsenen geschehen ist, wissen wir nicht. Die Welt der Jugendlichen beschränkt sich auf deren Territorium, alles darüber hinaus ist Neuland und nur aus Gerüchten bekannt. Die verschiedenen Familien, die in einem fragilen Frieden zusammen- bzw. nebeneinanderleben, werden mit kuriosen Leitmotiven charakterisiert. So wählt sich jedes Mitglied der Akademie eine Schallplatte als „Gott“ aus, die es fortan ständig bei sich trägt (Sid wählt „Private Eyes“ von Hall & Oates aus dem Jahr 1981 – ansonsten ist eher Punk angesagt), während „Das große Geschäft“ Schweinchenmasken trägt.

Dann ist da noch die fantastische Komponente: Offenbar wird die Welt der Familien von unbekannten Wesen gesteuert, die nur die „Fremden“ genannt werden und gelegentlich als gesichtslose Figuren ganz in Schwarz auftauchen. Viel erfahren wir darüber (noch) nicht, dennoch treibt ein Zwischenfall mit den „Fremden“ die Story voran, in der die Mitglieder der Akademie auf der Suche nach Sid die unbekannte Welt erkunden. Die Begegnungen sind natürlich gefährlich und reichlich skurril: ein Markt, dessen „Angestellte“ alle David heißen; eine Familie, die sich kleidet wie alte Leute und in einer Art Horrorhaus lebt.

Der Sammelband (es gibt auch wieder eine limitierte Hardcover-Ausgabe mit alternativem Cover) beinhaltet die die ersten sechs US-Hefte der Serie, die Ende 2021 bei Image startete (dort erschienen sogar Ausgaben, denen eine Schallplatte beigelegt war) und ist in unterschiedlich lange Kapitel gegliedert, von denen manche nur eine Seite lang sind – auch das ein Kuriosum. Das Setting, die unbekannte Welt mit ihren seltsamen Regeln, das Spiel mit diversen Genres, nicht zuletzt die Figuren machen den Reiz des Auftakts aus.

Autor Matthew Rosenberg (u. a. DC Horror, Der Joker, Uncanny X-Men) versteht es, die Story stets interessant und mit Wendungen angereichert weiterzutreiben. Zeichner Tyler Boss („Lazarus“, „The Department of Truth“ – beide auf Deutsch bei Splitter) kreiert immer wieder originelle Panelabfolgen und hält seine Bilder in einem kräftigen, klaren Tuschestrich, teilweise in einer knalligen, aber absolut passenden Neon-Kolorierung.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Matthew Rosenberg (Autor), Tyler Boss (Zeichner): What’s the furthest place from here? Band 1 • Aus dem Englischen von Anne Bergen • Skinless Crow, Niederwangen 2024 • 272 Seiten • 29,90 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.