Emils Ferris beendet ihre preisgekrönte Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“, Marc-Antoine Mathieu schickt die einsamste KI der Welt auf eine Rettungsmission, und Daniel Clowes legt wieder mal einen Comic des Jahres vor. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.
Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster Band 2
Das späte Debüt der in 1962 in Chicago geborenen Comiczeichnerin Emil Ferris – 2018, ein Jahr nach der US-Veröffentlichung, erschien der erste deutschsprachige Band bei Panini – hat die Fachwelt betört: „Am liebsten mag ich Monster“ war Jahressieger der seinerzeitigen Tagesspiegel-Jahresbestenliste und erhielt außerdem den Max-und-Moritz-Preis; international wurde es ohnehin mit jeder branchenrelevanten Auszeichnung geadelt. Gebrochen durch die Perspektive der zehnjährigen Karen Reyes, erzählt das Gesellschaftspanorama eine Geschichte der Gewalt, die sich von Auschwitz bis zu den Chicago Riots 1968 erstreckt, vom staatlichen Antisemitismus und Rassismus und der Misogynie und Homophobie des Alltags Verbindungen zieht zur kathartischen Flucht in die Kunst, mehr noch in die Pulphefte, comic books und Horrorfilme, in denen sich in den 50ern das Trauma der Vätergeneration und das beredte Schweigen über die Barbarei des Nationalsozialismus den Weg zum Bild, zur Sprache erkämpfte. Dass all diese Themen – und es sind noch weitaus mehr – trotz sprunghafter Erzählweise nicht beliebig anmuten, liegt an der jungen Hauptfigur Karen, die eigentlich einen vermeintlichen Selbstmord ihrer Nachbarin, einer Holocaustüberlebenden, aufklären will und sich dabei immer tiefer in ihre eigene, von Armut und Ausgrenzung bestimmte Familiengeschichte verstrickt. Weil sie viele Zusammenhänge nur bedingt versteht und es am erwachsenen Publikum liegt, die Puzzleteile zu ordnen, wird die Drastik der Ereignisse einerseits narrativ gemildert, andererseits psychologisch erhöht. Auch für den Abschlussband gilt: ein Meisterwerk.
Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster Band 2 • Panini, Stuttgart 2024 • 420 Seiten • Softcover • € 39,00
Daniel Clowes: Monica
Daniel Clowes neue Graphic Novel ist ein später Jahreshöhepunkt aus 2024: Vordergründig die Geschichte von „Monica“, deren Biographie Clowes in neun Kapiteln als Pars pro toto für ein Amerika der Anomie erzählt. Von ihrer Hippie-Mutter verstoßen, driftet Monica durch die Stationen ihres Lebens, auf der Suche nach Sinnstiftung immer auf der Kippe sich den nächsten Scharlatanen auszuliefern. Nimmt man sich die Freiheit, die Kapitel antichronologisch als Kurzgeschichten zu lesen, offenbart sich die literarische Finesse: Jeder Einstiegssatz die perfekte Exposition für ein bizarres Setting, jede Geschichte Teil eines Gesellschaftspanoramas, dessen Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Sekten-Gurus als raunende Wegmarker das sukzessive Ende der Vernunft befeuern und dem neuen Faschismus die Lunte reichen. Der radikale Individualismus hat neben der Wissenschaft auch den sozialen Raum getötet. Am Ende nehmen sich auf dem kleinstädtischen Kunsthandwerkmarkt alle Fraktionen voreinander in Acht: „Wir sind mal miteinander ausgekommen, aber, wie man weiß, ist diese Zeit (leider) vorbei.“ Die Klammer liefern bereits Vor- und Nachsatz: Zu Beginn der Anfang der Erde ohne Lebewesen, zum Ende ein apokalyptisches Inferno, aber eine Apokalypse für jedermann: Atombombenpilze, Flutwellen, fliehende Gestalten, kranke Menschen, eine unbarmherzig brennende Sonne, aber auch Zombies und drachenartige Flugwesen – selbst wenn sie eingetreten ist, wird die Vernichtung der Menschheit eine Frage der Weltanschauungen bleiben. Fritz Göttler bemüht in seiner SZ-Rezension James Joyce und Thomas Pynchon, um Clowes labyrinthische Erzählstruktur zu loben. Aber warum nur kleckern? Wenn Stephen King, Shirley Jackson und Jamees Tiptree jr. mit ein paar Bier vor Todd Solondz‘ „Happiness“ versacken, kommt Daniel Clowes dabei raus.
Daniel Clowes: Monica • Reprodukt, Berlin 2024 • 106 Seiten • Hardcover • € 24,00
Marc-Antoine Mathieu: Deep it
Marc-Antoine Mathieus Erzählungen spielen mit den Bausteinen des Comics, kafkaesk-humorvoll in seinem Früh-, deutlich satirischer mit runtergefahrenem Oberflächenreiz im Spätwerk. Seit „Deep me“, dem Vorgänger zu „Deep it“ aus dem letzten Jahr, ist eine vollends experimentelle Phase eingetreten. In „Deep me“ musste sich aus vielen schwarzen Panels erst einmal ein Ich herausschälen, Adam, womöglich eine ganz neue Form technologisch bearbeiteter menschlicher Identität, wie sich am Ende andeutete. Oder doch eine Künstliche Intelligenz? In „Deep it“ wird alles etwas konkreter, scheint Adam, die letzte KI der „Welt“, das Universum in einem Raumschiff zu durchstreifen auf der Suche nach einem neuen Planeten, auf dem Leben entstehen kann, denn die Erde ist, legen seine Gespräche mit dem Bordcomputer nahe, vollends unbewohnbar oder vernichtet – ein savior also, ausgestattet mit der Datenmenge der ganzen Welt, die den evolutionären Neuanfang vielleicht beschleunigen hilft. Aber auch hier wartet Mathieu mit einer grimmigen (?) Finte auf, gegen die sich der Schock des traurigen Protagonisten aus Spike Jonzes „Her“ wie ein absolut bedeutungsloses Sandkornschicksal ausnimmt.
Marc-Antoine Mathieu: Deep it • Reprodukt, Berlin 2024 • 112 Seiten • Hardcover • € 24,00
Luke Pearson: Hilda und Hörnchen: Das Regenversteck
Zu den schönsten Kindercomics gehört weiterhin die „Hilda“-Reihe des britischen Zeichners Luke Pearson, die seit 2018 auch als drei Staffeln umfassende Animationsfilmserie auf Netflix einen Popularitätsschub erlebt hat. Die lockere Dialogführung und das unbeschwerte Zusammenspiel aus Melancholie und Märchen bleibt auch in der Spin-off-Reihe „Hilda und Hörnchen“, ihrem kleinen weißen Hirschfuchs mit Geweih, erhalten. Im Vergleich zur Hauptserie werden offensichtlich noch jüngere Leser*innen avisiert: Die Panels sind großformatiger, die Dialoge kürzer, der Plot spielt sich an einem Abend ab. Vor allem aber ist nun Hörnchen die Hauptfigur, unentwegt damit beschäftigt, all die Gefahren abzuwenden, denen sich die arglose Hilda unbewusst aussetzt. Ein Rantanplan mit Weitsicht, der auch die Sprache der Tiere versteht, auf die beide nach einem plötzlichen Sturm in einer Waldhöhle treffen. Die trotzdem daraus resultierenden Sprach-, manchmal auch Lebensweltdifferenzen sind so possierlich wie geistreich.
Luke Pearson: Hilda und Hörnchen: Das Regenversteck • Reprodukt, Berlin 2024 • 56 Seiten • Hardcover • € 18,00
Gabor, Eric Corbeyran: Edgar Rice Burroughs: Das vergessene Land
Beim Splitter Verlag startet eine neue französische Konzeptreihe ähnlich der schon einige Jahre laufenden „Conan“-Bände. Wechselnde Kreativteams adaptieren die bekanntesten Storys von Edgar Rice Burroughs, in diesem Fall sogar als Doppelalben. Für den April ’25 ist bereits „Am Mittelpunkt der Erde“ angekündigt, ein weiterer Band, „Tarzan bei den Affen“, musste aber erst mal auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Vielschreiber Eric Corbeyran und Zeichner Gabor entwerfen das klassische Setting im detailverliebten, frankobelgischen Abenteuerstil und dimmen die kolonialistischen Töne der literarischen Vorlage deutlich runter. Auch wird hier nicht mehr hemdsärmelig alles abgeknallt, was vor die Flinte flattert, wie in Kevin Connors „Caprona“-Filmen – dem sense of wonder will man schon aus den merkwürdigen evolutionären Gesetzen dieser Welt herauskitzeln, anstatt sie zu bekämpfen. Inwiefern sich Burroughs noch dem Sozialdarwinismus seiner Zeit verpflichtet sah, arbeitet gewohnt kritisch Patrice Louinet (der auch für die Nachworte besagter „Conan“-Comics verantwortlich zeichnet) im Anhang heraus.
Gabor, Eric Corbeyran: Edgar Rice Burroughs: Das vergessene Land • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 120 Seiten • Hardcover • € 25,00
Romuald Giulivo, Jakub Rebelka: Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft
Der polnische Zeichner Jakub Rebelka und der französische Schriftsteller Romuald Giulivo haben sich zusammengetan, um H. P. Lovecraft, tja, zu gedenken, zu erledigen, zu sezieren? Die Erzählung steckt in den Fängen eines Fiebertraums: Lovecraft liegt im Krankenhaus, Darmkrebs im Endstadium, viel Zeit bleibt nicht mehr. Da erhält er Besuch von seiner eigenen Figur Randolph Carter, kurz darauf von seiner Ex-Frau Sonia Greene, und hier hat sich längst herausgeschält, dass im Morphiumrausch die Traumata und Erinnerungen, die Ängste und Versäumnisse am Schriftsteller vorbeiziehen, ja ihn peinigend heimsuchen. Visuell ist dies ein pittoreskes, dem kosmischen Horror angemessenes Inferno, inhaltlich mag man bei der andauernden Selbstkasteiung, der sich Lovecraft hier unterzieht, schon nach dem Rechercheeinsatz fragen, der dem Szenario vorausging, denn bis auf viel Spekulation und mancher Unwahrheit – angefangen beim „Einsiedler von Providence“, den, wenn schon nicht Lovecrafts gigantische Korrespondenz, so doch die akribische Arbeit seines Biographen S. T. Joshi längst als Mythos entlarvt hat – bleibt wenig hängen von diesem Versuch, sowohl durch sein Werk und seine Psyche mal ganz unverbindlich zu mäandern, weil am Ende jede Aussage, jede mutmaßliche Information nur dem Drogenrausch dieses Lovecraft-Ichs geschuldet sein könnte. Auch eine Möglichkeit, sich gegen Kritik zu immunisieren.
Romuald Giulivo, Jakub Rebelka: Der letzte Tag des Howard Phillips Lovecraft • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 144 Seiten • Hardcover • € 25,00
Lewis Trondheim: Aurora und der Ork Band 1
Unter den zeichnenden Humoristen ist Lewis Trondheim König. Dass sein längst tief in den dreistelligen Bereich vorgedrungenes Œuvre auch viele Abzweigungen zur Phantastik nimmt, dürfte seit seiner monumentalen Fantasy-Parodie „Donjon“ bekannt sein. Im vorliegenden Band seiner neuen Serie versetzt er einen Ork in eine Menschenschule. Ein klassisches fish-out-of-water-Gerüst also, und wie es sowohl in den Weltenwechsler- als auch in Trondheims Erzählungen üblich ist, wird der Humor vornehmlich in Dialogform geliefert. Wobei das, was üblicherweise als Differenz zwischen Klassen, Ethnien oder Religionen in Storys dieser Bauart herausgearbeitet wird, bei Trondheim noch einen zusätzlichen Dreh erhält, denn das titelgebende Mädchen Aurora, neben die der neue Ork-Mitschüler gesetzt wird, ist zugleich die einzige Figur, die sich überhaupt darüber wundert, dass sich nunmehr ein leibhaftiger Ork in der Klasse befindet. Weshalb die heruntergespulten Beschwichtigungsphrasen, mit denen Lehrer und Eltern auf Auroras Sorge reagieren („Urteile nicht zu streng über andere, bevor du sie kennenlernst.“ „Frag ihn nach seinem Lieblingsgericht, ich koche es für ihn.“), wenig hilfreich, geradezu fahrlässig und umso lustiger daherkommen.
Lewis Trondheim: Aurora und der Ork. Band 1: Ein neuer an der Schule • Reprodukt, Berlin 2024 • 64 Seiten • Softcover • € 15,00
Séverine Gauthier, Jérémie Almanza: Die Stummen Reiche
Ein Toonfish-One-Shot aus der Phantastik-Sparte: Ob dies Kinderaugen zum Glühen bringen wird, sei dahingestellt; Erwachsene werden die an Tim Burton gemahnende Ästhetik gewiss zu schätzen wissen. Makabre Untertöne bietet auch der Inhalt: Kaum nachdem das junge Mädchen Persephone realisiert hat, dass sie den Geist ihres kürzlich verstorbenen Nachbarn sehen kann, erscheinen auch schon zwei Skelette, um seinen „letzten Seufzer“ einzusammeln und ihn ordnungsgemäß ins Totenreich zu geleiten. Da sie sich aber um zwei Tage verspätet haben und ohnehin einen mäßig professionellen Eindruck machen, landet stattdessen versehentlich Persephone im Jenseits und muss sich gegen den Tod höchtselbst behaupten, dessen Regelwerk keine Lebenden im Reich der Toten vorsieht. Dort gibt es übrigens viel Arbeit und folglich auch jede Menge Kneipen, weswegen sich der Schrecken nicht aus dem Ende allen Seins, sondern aus dem nimmer endenden Verwaltungsdasein speist. Aber das ist nur Begleitmusik. In der Hauptsache drücken wir Persephone die Daumen, dass sie wieder den Weg zurück ins Diesseits finden mag.
Séverine Gauthier, Jérémie Almanza: Die Stummen Reiche • Toonfish, Bielefeld 2024 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,95
Kai Meyer, Ralf Schlüter, Yann Krehl: Die Krone der Sterne Band 3
„Das Wolkenvolk“, eine Comicadaption der Romane Kai Meyers, war die erste Eigenproduktion des Splitter Verlags, und mit sechs Alben zu je 72 Seiten hat der Bielefelder Zeichner und Illustrator Ralf Schlüter das vermutlich umfangreichste, in jedem Fall ambitionierteste deutschsprachige Fantasy-Comic-Werk in frankobelgischer Tradition vorgelegt. Dass Kai Meyers Herz für den Comic schlägt, bezeugen die weiteren Adaptionen seiner literarischen Vorlagen, die ebenfalls bei Splitter erschienen sind: „Frostfeuer“ von Marie Sann, „Der Speichermann“ von Jana Heidersdorf, „Das Fleisch der Vielen“ und „Phantasmen“ von Jurek Malottke. Auch Ralf Schlüter hat sich abermals aus Meyers Fundus bedient und mit „Die Krone der Sterne“ eine klassische Space Opera ins Panel-Universum übertragen. Das dritte Album beendet nun die Comicserie, die den ersten Band der Roman-Trilogie umfasst.
Kai Meyer, Ralf Schlüter, Yann Krehl: Die Krone der Sterne Band 3 • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 64 Seiten • Hardcover • € 18,00
Jasmin Dose, Jan Lukas Kuhn, Stefan Mesch: Unnützes Wissen über Manga und Anime
„Unnützes Wissen für Marvel-Nerds“ lautete der Titel von Stefan Meschs letztem Buch (siehe hier), und so wie im Vorgänger ist auch das in diesem Band gemeinsam mit Jasmin Dose und Jan Lukas Kuhn zusammengetragene Wissen über Manga und Anime alles andere als unnütz, sondern ein bemerkenswerter Recherche-Ertrag, der einerseits die Vielfalt der japanischen Comic-Produktion preist (woran sich unausgesprochen auch ein Erstaunen über die hiesige, weiterhin oftmals exotistisch formulierte Medienberichterstattung anschließen mag, vergleicht man allein die doppelten Profitzahlen von „Pokemon“ mit „Star Wars“, von „Demon Slayer“ mit „Super Mario“ – gleichwohl man sich zur Überprüfung mancher Zahlen Belege wünscht), im Guten die Bandbreite der Themen, Sujets, Repräsentationsformen registriert, aber im Schlechten nicht die Augen vor Sexismus, Homophobie und Transfeindlichkeit verschließt und zu pointierter Machtkritik in Stellung bringt. Ein abermals wichtiges, politisch waches Kompendium, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.
Jasmin Dose, Jan Lukas Kuhn, Stefan Mesch: Unnützes Wissen über Manga und Anime • Riva, München 2024 • 192 Seiten • Softcover • € 10,00
Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de
Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film und Literatur, ist Herausgeber und Chefredakteur der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, ND, Taz, Jungle World, Titanic, diezukunft.de, Testcard, kino-zeit.de, Das Viertel und vielen dahingeschiedenen Magazinen. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.