Trotz Geister kein Horror, trotz Verbrechen kein Krimi, trotz Familiendrama kein Slice of Life – Jeff Lemires Graphic Novel „Royal City“ ist ein erzählerisches Meisterstück von eigener Qualität.
„An mir – oder an Royal City – ist nichts besonderes“, erklärt der Erzähler aus dem Off. Das stimmt höchstens zum Teil: Thomas „Tommy“ Michael Pike, der Erzähler, ist tot. Seit mehr als zwanzig Jahren. Trotzdem erscheint er seinen Eltern und Geschwistern immer wieder, allen auf eigene Weise – als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener. Tommy geistert durch ihre Leben. Sein Tod wirft nach wie vor lange Schatten über die Familie, in der man sich voneinander entfremdet hat. Als ein Unglück die Pikes zusammenbringt, brechen jahrzehntealte Konflikte aus.
„In diesem Comic wird viel verrückter Scheiß passieren“, schreibt Autor Jeff Lemire im Nachwort der „Royal City“-Gesamtausgabe. Ursprünglich hing das Nachwort dem ersten Teil seines großartigen Epos an. Vorsichtig bringt Lemire seinen Fans bei, warum sie in „Royal City“ weniger Pulp, Sci-Fi und Fantasy erwartet als in vielen seiner jüngeren Comics: „Ich wollte wieder geerdetere Geschichten über ‘echte Menschen’ erzählen.“ „Royal City“ sei weder Krimi, Fantasy noch Horror, obwohl es darin Verbrechen, Gewalt, fantastische Elemente und „Geister“ gebe.
Der Autor vermeidet eine Kategorisierung. Ein Label könnte womöglich abschrecken. Dabei ist „Royal City“ unbedingt lesenswert: Die sorgfältig aufgebaute, eindrucksvolle und komplexe Erzählung, die sich über 14 Kapitel entwickelt, verdient das Prädikat Graphic Novel im besten Sinne eines grafischen Romans. Der bekommt schnell Sog. Spannung entsteht einerseits, indem Tommy ständig und vielgestaltig auftaucht, was anfangs mysteriös wirkt. Alles scheint möglich – Krimi, Fantasy, Horror. Ahnungen verdichten sich erst langsam zu Gewissheiten. Parallel führt Lemire seine Figuren ein, die Mitglieder der Familie Pike, die alle ihr spezielles Päckchen zu tragen haben. Teils kämpfen sie mit inneren Dämonen, teils mit anderen Menschen.
Wenn „Royal City“ ein Film wäre, würde ihn die TV-Zeitschrift wahrscheinlich als „Familiendrama“ ankündigen. Das trifft im Kern zu, mufft jedoch stark nach problemschwangerer Öde. Die kommt nicht auf: Nach einem Schlaganfall liegt Peter Pike, der Familienvater, bewusstlos in der Klinik. Noch am Krankenbett zetert seine Frau „Patti“ oder Patricia: „Er achtet überhaupt nicht auf sich.“ Als Tochter Tara um Mäßigung bittet, faucht Patti zurück: „Du teilst seine schlechten Gewohnheiten.“ Die Raucherin, die mit sich selbst weniger streng ist, schimpft auch über Taras Arbeit. Das neue Projekt der Immobilienmaklerin soll Royal City sein schwächelndes Herz entreißen. Die 45.000-Einwohner-Stadt hing lange am Nabel der Royal Manufacturing, einer Fabrik für Klempnerbedarf. Die befindet sich im Niedergang. Tara will das Unternehmen durch ein Royal Riverside Golfresort mit Luxusapartments ersetzen.
„Schön, dass sich manche Dinge nie ändern“, kommentiert Patrick oder Pat den Streit, als er das Streit-geladene Krankenzimmer betritt. Der älteste Pike-Sohn ist der einzige, der den Absprung aus Royal City geschafft hat. Sprungbrett war sein erster, erfolgreicher Roman. Der zweite hat gefloppt, und auch Pats Ehe mit einer Filmschauspielerin steckt in der Krise. Fehlt von den Lebenden noch Richard „Richie“, der zweitjüngste Sohn. Er hat ein massives Alkohol- und Drogenproblem und den Kontakt zur Familie abgebrochen. Obwohl er gar nicht da ist, fetzen sich Patti, Pat und Tara gleich im Krankenzimmer über ihn.
Lemire baut Spannung und Dramatik über drei Ebenen auf. Da ist einmal das Jetzt in den 2010er Jahren, der Zeitpunkt des Schlaganfalls von Vater Pike. Hier beginnt „Royal City“. Bald kommt 1993 dazu, das Jahr, in dem Tommy gestorben ist. Er, der jüngste Spross der Pike Familie, verbindet beide Ebenen. Als Lebender in der einen und als Erscheinungen verschiedenen Alters in der anderen bildet Tommy zugleich die dritte, verbindende Ebene – zusammen mit seinem Tagebuch. Daraus stammen die Kommentare aus dem Off. Sie lassen Tommy wiederaufleben in all seiner Einsamkeit und Zerrissenheit. So meint er ganz am Anfang noch zu Royal City: „Dieser Ort ist einfach anders.“ Nicht allein die Frage, was mit ihm 1993 eigentlich passiert ist, bringt Tempo in den Comic. Lemire streut in seine clevere Konstruktion zudem packende Nebenkonflikte ein. Sie vertiefen die Persönlichkeiten seiner Figuren, sodass das Drama Züge eines Psychothrillers bekommt.
Die Grafik erinnert wie immer bei Lemire an ein Storyboard. Sie sieht dahingehuscht, unfertig und schludrig aus, aber erzielt große Wirkung, weil sie das Wesentliche trifft. Lemire hat damit schon großartigen Comics wie „Essex County“ und „Der Unterwasser-Schweißer“ enorme Tiefe verliehen – an die „Royal City“ in vieler Hinsicht anschließt. Kommerziell wäre ein weiteres SF-Abenteuer wohl einträglicher gewesen, schreibt Lemire im Nachwort. Bleibt zu hoffen, dass der Comic dennoch viele Käufer*innen findet und nicht allein lobende Kritiken erntet. Lemire hat jedoch Angst, dass sein Werk darin als „Slice-of-Life“-Geschichte bezeichnet wird, als Lebensabschnittsgeschichte. Dieses Label steht bei ihm für Langeweile, was nun gar nicht zutrifft. Im Gegensatz zu den meisten „Slice-of-Life“-Storys, die noch dazu sehr offen austrudeln, hat „Royal City“ außerdem ein echtes Ende. Das fällt sogar fast überraschend versöhnlich aus. Ein anderes wäre vielleicht zu viel gewesen, künstlich überladen? Oder wie Jeff Lemire einen seiner Charaktere sagen lässt: „So viele Dinge sind einfach. Wir neigen nur dazu, sie zu verkomplizieren.“
Jeff Lemire: Royal City • Aus dem Amerikanischen von Katrin Aust • Skinless Crow, Niederwangen 2025 • 408 Seiten, Hardcover mit Farbschnitt • 49,90 Euro
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg als freier Autor unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.