Opa war bei der Waffen-SS – „Der Junge von nebenan“

Bild aus "Der Junge von nebenan" (Verbrecher Verlag)

Das Erwachsenwerden beginnt, als der Metzgersohn von nebenan „vor den Augen des Buben“, unseres Protagonisten, „den Schwanz auspackte und auf den Teppich in seinem Kinderzimmer pisste. Von dem Moment an war das Kinderzimmer kein Kinderzimmer mehr.“ Und von dem Moment an ahnt man, dass Martin Büssers Bildroman „Der Junge von nebenan“ kein von geschlechtslosen und kulleräugigen Figuren bevölkertes Kinderbuch ist. Sondern ein Werk, dem gleichermaßen „Wut und Zartgefühl“ zu Eigen sind, wie Büsser selbst sagt. Ein Werk über eine Welt, „die in einem Moment zutiefst entzückend sein kann und im nächsten wieder die grässlichste aller denkbaren“.

Die zu gleichen Teilen aus Worten und Bildern zusammengesetzte Erzählung ist eine verstörende Coming-of-Age-Groteske, die vieles ist, nicht aber herkömmlich oder gar harmlos. Die Hauptfigur, ein pubertierender Junge, hat es schon mit seinen marxistischen 68er-Eltern, die sich der RAF angeschlossen haben, nicht gerade leicht. Und darüber hinaus sind noch andere Probleme zu bewältigen: die erwachende Sexualität, der ganze Selbstfindungskram, die erdrückende Ödnis der Provinz, von den Erwachsenen auferlegte Zwänge und Kränkungen, gesellschaftliche Normen – und die Nazi-Großeltern.

Martin Büsser (Autor und Zeichner): „Der Junge von nebenan“.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 108 Seiten. 14 Euro

Denn Opa war bei der Waffen-SS und spricht im Rechtfertigungs- und Nostalgie-Jargon der ewig Schuldlosen: „Wie alle, so jung, waren ja unerfahren, Freundschaft, Kameraden, Abenteuer, Champagner in Frankreich, Kameraden fürs Leben, Blutsbrüder, Lagerfeuer, der Fuchs Rommel, Russen genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer, von den Juden im KZ nichts gewusst, plötzlich wieder Aufschwung, Arbeit…“

Die Bemühungen des kleinen Anti-Helden, aus dieser bedrückenden Realität zu entkommen, sind schon oft durchgespielt worden, in der Wirklichkeit wie in der einschlägigen Populärkultur: das Spiel, die Träumerei und Phantasiewelt, erste Begegnungen mit Literatur und Popmusik, die Bildung eines politischen Bewusstseins, der Aufbruch in die große Stadt, das letzte Abenteuer, die vermeintliche Freiheit.

„Der Junge von nebenan“ ist eine illustrierte politische Geschichte der Bundesrepublik der 70er und 80er – und eine Fibel über die zentralen Erfahrungen der Adoleszenz. „Den Mut, sexuell oder wie auch immer abzuweichen, soll das Buch schon vermitteln“, meint Büsser. Seinen „Roman“ möchte der 41-Jährige, der der Postpunk- und Hardcore-Szene entstammt, auch „vor dem Hintergrund eines Punk-Verständnisses“ verstanden wissen, das, wie er sagt, „für mich eher Die Tödliche Doris als Die Toten Hosen meint. Kreative Selbstaneignung, Respektlosigkeit, aber hinter allem der unbedingte Wille nach Freiheit. Nicht nur in der Kunst“.

Was seine Zeichentechnik angeht, pflegt Büsser einen bewussten Dilettantismus, eine Art Do-It-Yourself-Stil, der viel mit der Rotzigkeit und Unbefangenheit des frühen Punk zu tun, aber auch gänzlich andere Referenzpunkte aufweist. „Ein unbewusstes Vorbild waren Zeichner, deren Kenntnis ich längst verdrängt habe, vor allem der Simplicissimus-Zeichner Olaf Gulbransson. Als Kind habe ich viel in seinen Büchern geblättert, sie standen bei meinen Eltern im Regal.“ Seine künstlerische Arbeitsweise erklärt Büsser so: „Ich könnte auch Comicbilder zeichnen, die so ausgereift sind wie beispielsweise bei ›Spirou und Fantasio‹ oder ›Tim und Struppi‹. Nur dass ein so professionelles Bild viel mehr Zeitaufwand benötigt. Ein Blatt für ›Der Junge von nebenan‹ war binnen weniger Minuten fertig – und passte entweder sofort oder wurde zerknüllt und ebenso schnell neu gezeichnet. Ein ›sauberes‹ Comicbild dagegen benötigt einen halben Tag Arbeit. Das war keine Faulheit, sondern eine bewusste Entscheidung für die skizzenhafte Form, das Flüchtige.“

Seite aus „Der Junge von nebenan“ (Verbrecher Verlag)

Ihren Charme bezieht Büssers Bildergeschichte jedoch nicht nur aus der Unfertigkeit und Einfachheit der Zeichnungen, sondern auch aus der mal unterschwelligen und mal offenen Drastik des Textes. Während die Bildästhetik wiederholt an die Niedlichkeit und stille Melancholie von Comic-Strips wie etwa den „Peanuts“ anknüpft, entfaltet sich im Inhalt ein Gestrüpp aus Sexualität, Kunst, Politik und Gewalt. Schlicht in der Form – ernst inhaltlich. „Das war die Grundidee“, erläutert Büsser, „eine alte Form auf neue Themen wie Homosexualität, queere Identitätsfragen oder RAF anwenden, die von den alten Zeichnern nie thematisiert wurden. Als Kind war ich ein Fan von frankobelgischen Funnies, weil ich die Zeichnungen liebte. Inhaltlich fand ich die Hefte dagegen immer verlogen. Es gab zwar böse Widersacher, aber keine Abgründe, keine Widersprüche, nichts, was mich selbst beschäftigt hätte.“

Dass es in der Bildergeschichte obendrein von zahlreichen Verweisen auf Literatur, Kunst und Musik wimmelt, ist keineswegs verwunderlich. Martin Büsser ist bislang vor allem als Verleger, Sachbuchautor und Journalist in Erscheinung getreten. Seine Kenntnisse der Populärmusik und Bildenden Kunst des vergangenen Jahrhunderts und deren Randbereichen, in denen er auch schon mal die Avantgarde von morgen entdeckt, sind beeindruckend. Und viele seiner Artikel sind mit der Verve desjenigen geschrieben, der seinen Gegenstand sowohl mit Leidenschaft betrachtet als auch historisch-theoretisch durchdringt.

„Der Junge von nebenan“ zeigt, dass Büsser sich nicht nur mit der Beschreibung und Katalogisierung von Kulturerzeugnissen befasst. „Die Frage nach sexueller Identität wie die nach einer ›richtigen‹ Linken oder den Irrwegen der Linken treibt mich seit meiner Pubertät um, bis heute“, sagt Büsser. „Es sind die zentralen Fragen meines Lebens.“ Dass er zu diesen Themen auch zeichnen und Geschichten erzählen kann, hat er nun bewiesen. „Mit ›Der Junge von nebenan‹ möchte ich einfach einen klassischen Plot – man könnte das mit ›Werther‹ vergleichen, auch wenn ich natürlich nicht so vermessen bin, mich mit Goethe in einem Atemzug zu nennen – in einer Form präsentieren, die es so noch nicht gegeben hat“, sagt Büsser.

Gänzlich neu war die Idee nicht: „Naheliegend war das Buch insofern, als dass ich schon viel länger zeichne als schreibe. Ich habe bereits in meiner frühen Jugend Comics und Cartoons gezeichnet. ›Der Junge von nebenan‹ war ein über Jahrzehnte vertagtes Anliegen von mir, eine Herzenssache, wie es so schön heißt. Zum Ziel habe ich mir lediglich gesetzt, dass der Plot nach hundert Seiten enden musste.“ Und wie viele Seiten hat „Der Junge von nebenan“? Exakt einhundert. Auch das hat er also geschafft.

Dieser Text erschien zuerst in: StadtRevue 2/2010

Thomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet seit 1999 als freier Autor für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u. a. Konkret, Berliner Zeitung, Stadtrevue Köln). Von 1999 bis 2011 war er in der Redaktion der linken Wochenzeitung Jungle World tätig. Seit 2013 ist er Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung Neues Deutschland.