Überall Leben, aber alles erstarrt – Jeff Lemire und seine Comics

Künstler Jeff Lemire in seinem Studio (Foto von Kayla Chobotiuk)

Jeff Lemires Geschichten sind auf versöhnliche Weise unversöhnlich. Sie erzählen von Gefangenschaft – im Körper, im Leben, in einem Landstrich -, von Isolation und Hilflosigkeit, doch suspendiert Lemire nie das Utopische – die Möglichkeit zur Flucht, die Rettung, die Veränderung. In seinen Erzählungen ist meist ununterscheidbar, ob sich die Figuren selbst im Weg stehen oder äußere Zwänge sie gefangen halten. Ganz wie im wahren Leben: Das eine schließt das andere nicht aus. Darum umklammert seine Storys und Zeichnungen stets eine diffuse Melancholie, eine gesellschaftliche wie psychologische Verzweiflung, und es ist schon überaus bemerkenswert, wie der 42-jährige, kandische Künstler diesen Tonfall, ja diese Erzählfolie von seinen alten und neuen Indie-Comics bis zu den A-Klassen der viel unflexibleren Superhelden-Marken beizubehalten versteht.
Von der Bandbreite seiner Werke kann man sich auf dem diesjährigen Internationalen Comic-Salon Erlangen überzeugen, wo Jeff Lemire als Ehrengast anwesend sein wird, Vorträge halten, Signierstunden geben und mit einer Ausstellung bedacht wird. Weitere Auftritte folgen anschließend am 4. Juni in Berlin in der Kanadischen Botschaft und im Comicladen Grober Unfug. Was dieses Erzählgenie trotz seines vergleichsweise jungen Alters für den Comic bereits geleistet hat, möchten wir mit diesem Dossier noch einmal in Ausschnitten beleuchten.
SVEN JACHMANN

Essex County: Geschichten vom Land – Überall Leben, aber niemand nutzt es
Die erste Seite: der Blick auf ein Windrad, dann auf ein Futtersilo, schließlich auf den Hinterkopf eines Jungen. Die Halbtotale auf der folgenden Seite zeigt ihn in einem provisorischen Superheldenkostüm: Cape, Handschuhe und Batman-Maske. Aus einer Vogelperspektive sehen wir, dass er sich mitten auf dem riesigen Feld einer Farm befindet. Er schließt die Augen, sammelt allen Mut, läuft los und – erhebt sich in die Lüfte, fliegt direkt auf die Leser/innen zu. Sein Blick verrät, dass er es selbst nicht ganz glauben kann. Aber die Reise währt nur kurz: Die Rufe seines Onkels holen Lester in Sekundenschnelle buchstäblich auf den Boden der Tatsachen zurück.

Jeff Lemire (Text und Zeichnungen): „Essex County Band 1: Geschichten vom Land“.
Aus dem Englischen von Thomas Schützinger. Edition 52, Wuppertal 2010. 112 Seiten, 11 Euro

Für Superman war die Farm meist das Refugium, um sich für die Krisen der Welt zu rüsten. Nach wenigen Seiten ist aber klar, dass es sich beim zehnjährigen Lester umgekehrt verhält. Hier schlüpft einer ins Superheldengewand, weil er sich nicht von der Welt, sondern von seiner eigenen Krise abspalten muss. Als Lesters Mutter vor wenigen Monaten an Krebs starb, musste er als Waise zu deren Bruder Kenny ins abgeschiedene Essex County ziehen, der Heimatstadt des kanadischen Comicautors Jeff Lemire. Nun leben die zwei miteinander aneinander vorbei, und alle Annäherungsversuche des von der Situation nicht minder überforderten Farmers werden von Lester brüsk abgewehrt. Für die beklemmende Isolation, der die beiden in den nicht enden wollenden Maisfeldern ausgesetzt sind, nutzt Lemire das Schweigen zwischen und in den Panels. Kontinuierlich werden Blicke ohne Worte fokussiert. Überhaupt vermitteln nicht die Dialoge, sondern die Gesichter der Sprechenden. Eine stille Trauer verbindet die wenigen Gebäude und Fahrzeuge, die Bäume und Tiere, derer der Blick habhaft wird: Alles deutet auf Leben hin, aber so recht nutzen kann es hier niemand.

Lester tröstet sich mit der Welt der Superhelden-Comics. So gerät er an den Tankstellen-Besitzer Jimmy Lebeuf, der vor einem folgenschweren Unfall ein berühmter Eishockey-Star war. Sie freunden sich an, Lester zeigt ihm seine ersten Comicversuche und gemeinsam bereiten sie sich auf die Invasion der Aliens vor, mit der Lester täglich rechnet. Das noch mehr hinter der Beziehung stecken könnte, erweist sich erst im Verlauf der Erzählung und nimmt eine sehr irrationale Wendung, die, bei aller Rätselhaftigkeit, eine ganze Menge über Lesters Superhelden-Affinität verrät. Weil Jimmy nicht in seine Familienbiographie involviert ist, aber bedingungslos Lesters Fluchten bestärkt, wird er zum Rettungsanker eines gequälten Zurückgelassenen, gleichwohl auch sein Onkel nichts unversucht lässt, zu Lester vorzudringen.

Annäherung und Abwehrhaltung – Lemires schwarzweiße Grafik, die Graustufen nur in den Rückblenden zur Unterscheidung der Zeitebenen kennt, fügt sich exzellent in diese Polarität. Die Konturen sind verwackelt, und so wirkt das flächige Schwarz umso bedrückender. Kein Panel ist zu finden, das bloß reine Information und Orientierungshilfe sein wollte, jeder Bildausschnitt spricht beredt über die Verfassung der Figuren. Sehr filmisch geht das vonstatten und folgt der Struktur nach zudem den Bausteinen des Superheldengenres, nur dass die Panoramen, die reduzierten Hintergründe und Splashpanels nicht Heroismus, Triumph oder Dramatik vermitteln, sondern von topographischer wie psychischer Leere erzählen. Und so wie die Grammatik der Allmachtsphantasie gegen ihre inhärente Gewalt neu formuliert wird, dienen auch Lesters Fluchtträume seiner Emanzipation vom Trauma – in der letzten Sequenz jedenfalls wird aus der Entfremdung der Erinnerung eine Geste der Versöhnung und das Cape zum unnützen Ballast. Der Schritt zurück in die Realität ist allerdings pure unterschwellige Dramatik, denn eigentlich benötigt jeder Superheld, auch einer wider Willen, einen Antagonisten und wenn es seine inneren Dämonen sind. Lemire hat die in den USA völlig zu Recht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete und u. a. für den Harvey- und zwei Eisner-Awards nominierte Erzählung als Trilogie vorgelegt. Die weiteren Bände sind ebenfalls bei Edition 52 erschienen.
SVEN JACHMANN

Descender – Bestie Mensch
In einer fernen Zukunft werden die Planeten, die dem „Vereinten Galaktischen Rat“ angehören, von riesigen Robotern, die als „Harvester“ in die Geschichte eingehen sollen, attackiert. Der verheerende Angriff fordert zahlreiche Opfer und veranlasst die Überlebenden Bewohner der Galaxie alle Roboter zu vernichten, damit sich eine solche Tragödie nie mehr wiederholen kann. Doch der Roboter Tim-21 hat den Genozid gemeinsam mit seinem mechanischen Hund „Bandit“ überlebt. Der als Spielgefährte für Kinder konzipierte Android aus der Tim-Baureihe verfügt über ein komplexes, empathisches System und ist durch seine mysteriöse Verbindung zu den Harvestern nun das erklärte Ziel aller Glücksritter und Halsabschneider der Galaxie.

Jeff Lemire (Text), Dustin Nguyen (Zeichnungen): „Descender Bd. 1-5“.
Aus dem Englischen von Bernd Kronsbein. Splitter, Bielefeld 2015-2018. 120-144 Seiten. 19,80-22,80 Euro

Descender“ ist eine großartige, finstere Erzählung die das Thema „Künstliche Intelligenz“ und die damit einhergehende Entwicklung emotionaler Strukturen geschickt mit jeder Menge spannender Action vermengt. Trotz der bedrückenden Grundstimmung vermögen der nicht besonders helle aber gütige „Bohrer“ und Tims treuer Robohund „Bandit“ mit seinem drolligen Emoticon-Gesicht immer wieder so viel Menschlichkeit und Wärme zu versprühen, dass alle Menschen neben den mechanischen Akteuren zur Nebensächlichkeit werden. Diese Invertierung, die alle Roboter als menschliche, liebenswerte Sympathieträger und die meisten humanoiden Akteure als skrupellose, brutale Drohnen zeigt, ist es, die „Descender“ so besonders macht. Die Frage danach, was einen Menschen ausmacht und wie wenig dabei von seiner äußeren Erscheinung abhängt, beschäftigte Autor Jeff Lemire in der gefeierten Vertigo-Reihe „Sweet Tooth“, die er selbst auch visuell realisierte.

Verantwortlich für die zarte und dekorative Aquarelloptik von „Descender“ ist jedoch Dustin Nguyen. Mit blassen Farben und wenigen, feinen Linien führt er die klare Linie der Kontraste und Widersprüche auch in den Bildern des Bandes fort. Die warme Optik, die man als Leser auf den ersten Blick eher einer melancholischen Graphic Novel zuordnen würde als einer nicht mit Explosionen geizenden Science-Fiction-Story, fängt aber all das ein, was unter der Oberfläche der Geschichte geschieht. Die Gefühle und Sehnsüchte des kleinen Tim-21. Überraschende Wendungen, ein haarsträubender Cliffhanger und viele, stetig an tiefe gewinnende Charaktere tun ihr übriges, um der Serie einen Ehrenplatz in jedem Sammlerregal zu sichern.
MATTHIAS PENKERT-HENNING

Secret Path – Auf der Flucht
„Chanie Wenjack war ein kleiner Junge, der am 22. Oktober 1966 starb. Er wollte entlang der Bahngleise nach Hause gehen, um der Cecilia Jeffrey Indian Residential School zu entkommen. Chanies Zuhause war 400 Meilen entfernt, aber das wusste er nicht. Er wusste nicht, wo sein Zuhause war und wie er es finden sollte. Aber wie so viele Kinder der Residential Schools – mehr als man sich vorstellen kann – versuchte er es.”

Jeff Lemire (Zeichnungen), Gord Downie (Musik): „Secret Path.“
Simon & Schuster 2016. 96 Seiten. 26,99 $

So liest sich das Backcover der (wortlosen) Graphic Novel „Secret Path“ von Gord Downie (Sänger der legendären kanadischen Band The Tragically Hip) und Comicautor- und zeichner Jeff Lemire, die 2016 im LP-Format erschienen ist, samt Download Code für die zehn Songs von Downie, deren Texte die Bilder Lemires unterbrechen.

Die beiden arbeiten ein trauriges Kapitel kanadischer Geschichte auf, das einen ziemlich sprachlos macht. Denn von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 wurden in etwas 3000 Residential Schools die Kinder von kanadischen Ureinwohnern fern von der Heimat erzogen. Man wollte die Kinder „zivilisieren“, verbot ihnen Kontakt zu den Eltern, verbot ihnen ihre Muttersprache zu sprechen und brachte ihnen stattdessen Englisch und Französisch bei. Der staatliche Auftrag wurde von den Kirchen (von der katholischen Kirche bis zu den Methodisten) nur allzu gern erfüllt. Und mit aller „gebotenen“ Härte, die man schon beim bloßen Gedanken an solche Einrichtungen erahnt.

Die Einkünfte der von Simon and Schuster verlegten Graphic Novel werden übrigens dem National Centre for Truth and Reconciliation (NCTR) an der Universität von Manitoba gespendet, das die Geschichte des Schulen aufarbeitet.

Downie hat auf Grundlage der Graphic Novel auch einen sehr atmosphärischen, todtraurigen Animationsfilm angefertigt, der von seinen Songs begleitet wird. Man kann ihn auf Vimeo ansehen.
BERND KRONSBEIN

Black Hammer – Die Einsamkeit der Superhelden
Früher war alles besser. Was in der Regel eine inhaltsleere Aussage ist, gilt für die illustren Bewohner einer Farm in der Mitte von nirgendwo als bittere Realität. Denn hinter der bunten Bande, die sich für die Bewohner des nahen Städtchens als zurückgezogene, dysfunktionale Familie ausgibt, verbirgt sich niemand anders als eine Truppe ehemaliger Metawesen – oder Superhelden, wie man die ja früher nannte. Bis vor exakt zehn Jahren beschützten Abraham Slam, Golden Gail, Barbalien, Madame Dragonfly, Colonel Weird und vor allem der mächtige Black Hammer nämlich die Metropole Spiral City vor Kroppzeug jeglicher Art. Bis der Weltenvernichter Anti-Gott auf den Plan trat, bei dessen Bekämpfung der Anführer Black Hammer sein Leben ließ – und sich die restlichen Recken plötzlich in einem Farmhaus auf einer entlegenen Ranch wiederfanden. Der Haken an der Sache: Eine Rückkehr scheint nicht möglich, jeder Versuch, die Stadtgrenzen zu verlassen, scheitert an einer Art Energiefeld, hinter dem auch stets die Sonden verschwinden, die der rührige Roboter Walky Talky unermüdlich sendet.

Jeff Lemire (Text), Dean Ormston (Zeichnungen): „Black Hammer. Bd. 1+2“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust. Splitter, Bielefeld 2018. 184/176 Seiten. 19,80/24,80 Euro

Die Kämpfer verdauen ihr unfreiwilliges Exil unterschiedlich gut: Der alte Abe Slam knüpft zarte Bande zur Ex-Frau des lokalen Sheriffs und versucht, sich möglichst mit der Lage abzufinden, auch wenn der eifersüchtige Bulle das gar nicht gerne sieht. Barbalien, der Krieger vom Mars, der als Mark Markz unerkannt unter den Menschen wandelt, freundet sich mit dem örtlichen Pfarrer an und entwickelt sogar zarte Gefühle. Weniger frohgemut ist da schon Lady Dragonfly, die sich in eine kleine Hütte im Wald zurückzieht und dort ihrer Magie frönt. Colonel Weird driftet immer öfter in die Para-Zone ab, die ihn zu einem geisterhaften Halbwesen macht und nach und nach den Verstand raubt. Am heftigsten allerdings rebelliert Golden Gail gegen ihr Schicksal: Als Gail Garnett konnte sich die Mittfünfzigerin per Zauberwort in ihrer kindliches Alter Ego verwandelen, aber seit dem unfreiwilligen Exil klappt das nicht mehr. Vielmehr ist der Geist dieser reifen Frau im Körper einer kleinen Göre gefangen, die raucht, säuft und sich auch sonst nicht sonderlich kindgerecht verhält. Das führt stets zu Ärger mit der lokalen Schule, den Abe, der sich als ihr Großvater ausgibt, immer wieder mit Mühe und Not kittet.

Die Lage scheint also durchaus unüberschaubar, als irgendwo draußen im All, in irgendeiner Dimension, eine von Walky Talkys Sonden doch noch landet und von der NASA der Ursprungsort zurückverfolgt wird. Die Tochter des verschwundenen Black Hammer, Lucy, nimmt Kontakt zum Astronomen Jimmy Robinson auf, der als Doctor Star früher best buddies mit Black Hammer war. Gemeinsam entdeckt man ein Dimensionstor, das vielleicht einen Weg zurück für die verlorenen Helden von Spiral City bedeuten könnte – wenn sie denn wirklich zurückkehren wollen…

Jeff Lemire liefert mit „Black Hammer“ eine brillante Superhelden-Geschichte, deren Brillanz darin liegt, dass sie keine Superhelden-Geschichte ist. Die ehemaligen Verteidiger von Star City bieten kaum kaschierte Referenzen auf populäre Ikonen des Comic-Universums: Golden Gail, die von einem alten Zauberer das Geheimwort „Zafram!“ erlernt, wirkt wie eine kleine Schwester von Billy Batson, der als Shazam die Welt rettet; der Patriot und Selfmade-Hero Abraham Slam kommt wie Batman und Captain America in einem daher; den Marsianer Markkon Markken, der von seinem Heimatplaneten verbannt als Gestaltwandler auf der Erde segenreich wirkt, kennen wir natürlich als Martian Manhunter J’onn J’onnz; Colonel Weird verweist auf den intergalaktischen Recken Adam Strange, und die Hexe Madame Dragonfly schaute uns als namenlose Erzählerin in diversen EC-Horror-Comics ins erschreckte Gesicht.

In Spiral City kämpfte man gegen Mad Scientists, Riesenroboter und gottgleiche Wesen, mit denen es die Gerechtigkeitsliga und die Avengers täglich zu tun haben. Lemires Kunststück liegt nun darin, all diese Motive in die Erinnerung der Helden zu verbannen, die sich je nach Gemütslage nach ihrer Zeit zurücksehnen, ihre neue Heimat suchen und vor allem auch ihre finsteren Geheimnisse verbergen. Jedes Heft der hier versammelten Serie legt den Schwerpunkt auf eine einzelne Figur, ihre „Origin“ und ihre Beweggründe, wobei Zeichner Dean Ormston in Cover und Gestaltung jeweils den individuellen Stil der klar erkennbaren Vorbilder nachahmt – so etwa wirkt vor allem das Kapitel um die finsteren Abgründe der Lady Dragonfly wie ein Horror-Parforce-Ritt aus dem alten EC-Verlag, komplett mit Erzählerin, die uns das Geschehen dräuend nahebringt, finsteren Prophezeiungen und sogar einer Art Swamp Thing.

Strukturell (einzelne Hefte für einzelne Charaktere) somit ähnlich gebaut wie die Urmutter aller Meta-Helden-Sagas, Alan Moores „Watchmen“, verfolgt „Black Hammer“ zumindest dieselbe Grundidee: Die große Zeit der Helden ist vorbei, wehmütig-deprimiert blicken sie zurück auf alte Taten. Aber anders als in der Welt der Minutemen und Watchmen geht es nicht um eine Dekonstruktion des Heldenmythos an sich, sondern um eine liebevolle Hommage an ein ganzes Genre, das durch die Innensicht auf die Figuren, die mit ihrem Schicksal – from hero to zero – ganz unterschiedlich umgehen.

Ganz bewusst verpflanzt Lemire seine Helden auf eine Farm, die wirkt wie eine unheimlichere Variante der Heimat des kleinen Clark Kent in Smallville: Schon in „Essex County“ entwickelte Lemire den Stil, der die Abgründigkeit des Landlebens als „Country Gothic“ einfing. Durch einen durchaus unerwarteten Twist am Ende verleiht Lemire der Sache dann noch eine ordentliche Wendung, die einen veritablen Cliffhanger bietet. Im reichhaltigen Anhang erzählt Lemire dann von der langen Entstehung des Projektes, zu dem er schon 2007 erste Ideen entwickelte, was durch eine Cover-Galerie und noch durch einzelne Portraits ergänzt wird, in denen ganz im Stile von DCs „Who is Who?“ mittels Lexikon-Einträge die Figuren und sogar ihre fiktiven ersten Auftritte aufgelistet werden. Der vorliegende Band bringt die ersten sechs Ausgaben der Serie, die in Einzelheften und auch schon als Sammelband „Black Hammer Volume 1: Secret Origins“ bei Dark Horse herauskam. Band 2 ist seit wenigen Tagen im Handel.
HOLGER BACHMANN

Der Unterwasser-Schweißer – Das zweite Leben
Unterwasser-Schweißer Jack Joseph liebt seinen Beruf. Das können die meisten seiner Kollegen oder auch der anderen Einwohner seiner deprimierenden Küstenstadt in Neuschottland nicht verstehen. Unter dem Meeresspiegel ist Jack allein mit den Erinnerungen an seinen versoffenen aber liebevollen Vater, der hier auf einem Tauchgang verstarb, als Jack erst zehn Jahre alt war. Weder seine Mutter noch seine hochschwangere Ehefrau können den introvertierten, labilen Mann vom Trauma seiner Kindheit befreien und ihn der Gegenwart und seiner eigenen Familiengründung zuwenden. Als Jack eines Tages auf einem Tauchgang beginnt, Stimmen zu hören, droht die Situation zu eskalieren…

Jeff Lemire (Text und Zeichnungen): „Der UNterwasser-Schweißer“.
Hinstorff Verlag, Rostock 2017. 224 Seiten. 18,99 Euro

Mit wenigen, zittrigen aber meisterhaft treffsicheren Tuschelinien formt Lemire mit seinem Taucher-Drama ein deprimierendes Szenario, das vor allem von seiner immens großen, emotionalen Glaubwürdigkeit lebt. Auch wenn es im gemütlichen Lesesessel leichtfällt, ein vorschnelles Urteil über einen vermeintlich egoistischen und undisziplinierten Ehemann und werdenden Vater zu fällen, findet man sich trotzdem schnell inmitten von Jacks aussichtslosem Gefühlssog wieder. Der Unterwasser-Schweißer liebt seine Frau und möchte für sie und das gemeinsame Kind da sein, doch seine Gedanken kreisen ausschließlich um die Welt unter der Wasseroberfläche und seinen gebrochenen Vater, von dem er sich nie verabschieden konnte.

Inhaltliche Zusammenfassungen oder Rezensionen können der Intensität nicht gerecht werden, mit der Lemire fernab von kalkuliertem Betroffenheits-Kitsch diesen komplexen, emotionalen Sachverhalt vor allem über seine rauhen, eindringlichen Skizzen wiedergibt, die nicht nur den Charakter seiner Figuren, sondern vor allem ihre ungastliche Umgebung widerspiegeln. Man muss der Kunstform Comic schon sehr fern sein, sich bereits im Vorfeld ein unzutreffendes Bild von diesem eindrucksvollen, kleinen Buch machen oder einfach ein Herz aus Eis haben, um am Ende von „Der Unterwasser-Schweißer“ keinen dicken, schweren Kloß im Hals zu spüren.

Auch wenn es einem Werk und der ganzen Industrie stets wichtige, öffentliche Aufmerksamkeit verschafft, wenn ein Comic in der Traumfabrik Hollywood filmisch aufbereitet werden soll, wird es die von Schauspiel-Star Ryan Gosling angekündigte Umsetzung dieser herzzerreißenden „Slice of Life“-Story ausgesprochen schwer haben. Jacks Reise in seine schmerzhafte Vergangenheit orientiert sich mit beeindruckender Perfektion an den erzählerischen Möglichkeiten, die das Comic-Medium bietet. Ein großartiges Buch.
MATTHIAS PENKERT-HENNING

Ein Interview mit Jeff Lemire über die Entstehung des Comics findet sich hier.

Moon Knight – Wahn und Wirklichkeit
Es ist eine ungewöhnliche Ausgangsposition: Der Held der Geschichte sitzt in einer Nervenheilanstalt. Zwei Pfleger, die ihn offenbar nicht mögen, stellen ihn ruhig, verhöhnen ihn, misshandeln ihn sogar. Die Ärztin sagt ihm, er sei in der Anstalt, seit er zwölf Jahre alt sei. Doch er glaubt, er sei ein Superheld. Er hält sich für Moon Knight, einen Kämpfer für die Schwachen dieser Welt.

Jeff Lemire (Text), Greg Smallwood (Zeichnungen): „Moon Knight Bd. 1“.
Panini, Stuttgart 2017. 132 Seiten. 16,99 Euro

So beginnt die aktuelle Neuauflage der Superheldenserie „Moon Knight“. Von der wusste ich bislang nicht viel – Interesse an diesem Comic weckte der Name des Schriftstellers, der für die Texte verantwortlich ist. Jeff Lemire ist derzeit einer der Comic-Autoren, deren Geschichten mich immer wieder begeistern; vor allem seine Science-Fiction-Serie „Descender“ finde ich großartig. Mit „Moon Knight“ begibt er sich erneut in das Superhelden-Genre. Er greift eine Figur auf, die es seit 1975 gibt, die aber im deutschen Sprachraum nie sonderlich bekannt geworden ist. Das hat für Leser wie mich einen riesigen Vorteil: Wer sich auf „Willkommen im neuen Ägypten“ einlässt, braucht keinerlei Vorkenntnisse zu alten Geschichten dieser Figur, verwirrt ist er allerdings trotzdem.

So ging es mir – und das ist Absicht. Wenn die Geschichte aus der Sicht eines Mannes erzählt wird, den man in eine Anstalt eingeliefert hat, wo man ihn mit Medikamenten und Elektroschocks ruhigstellt oder gar „behandelt“, ist eigentlich schon klar, dass die Realität nicht nur einmal ins Schwanken gerät. Denn bis zum Ende dieses Bandes ist nicht klar, was Realität ist und was sich der „Held“ der Geschichte nur einbildet. Wenn Marc Spector mit dem Geist eines ägyptischen Gottes spricht und versucht, aus der Anstalt auszubrechen, kann das eine Vision seines schwer beeinträchtigten Geistes sein. Wenn er glaubt, die zwei Pfleger und die Ärztin seien Diener eines anderen ägyptischen Gottes, klingt das ebenfalls wie eine Wahnvorstellung. Und wenn er auf New York blickt und sieht eine riesige Pyramide im Hintergrund, während Sandstürme durch die Straßen der Stadt pfeifen, wirkt das ebenfalls nicht realistisch.

Jeff Lemire spielt mit den Wahnvorstellungen, zeigt immer wieder klare Sequenzen von Realität, verwirrt den Leser dadurch ziemlich und schafft so eine Geschichte, deren Sog mich packte. Für mich als Leser war klar, dass der Mann in der Anstalt in Wirklichkeit der geheimnisvolle Moon Knight ist, ein Superheld, den irgendwelche Bösewichte auf diese Weise aus dem Verkehr ziehen wollen. Und ich wollte während der Lektüre vor allem wissen, wie der Autor es schafft, seinem Helden einen Weg aus der Misere zu weisen.

Greg Smallwood ist für die künstlerische Gestaltung zuständig, das macht er sehr variantenreich. Manchmal gibt es superheldenmäßige Action, meist aber wirken seine Bilder wie eine Mixtur aus Fantasy und Horror. Je nach Zustand des Helden, verändern sich die Bilder, wirken mal bitter ernst, dann wieder skurril, fast witzig. Das ist originell, sieht kaum wie bei üblichen Superhelden-Comics aus und ist vor allem für solche Leser spannend, die ungewöhnliche Blickwinkel mögen.

„Moon Knight“ ist kein konventioneller Superheld, kein weiterer kostümierter Kerl, der sich durch die Straßenschluchten von Metropolis, Gotham oder New York schlägt. Es geht um Wahn und Wirklichkeit, um Realität und Illusion – und das ist klasse gemacht.
KLAUS N. FRICK