Der Großvater als KI-Bot: Wie Familien mit dem Erbe des Holocaust umgehen

Amy Kurzweil, Tochter des Computerpioniers Ray Kurzweil, und Gamedesigner Jordan Mechner suchen in zwei aktuellen Graphic Novels nach ihren jüdischen Wurzeln in Wien.

Ist es möglich, einen toten Menschen zurückholen, indem man alles, was man über ihn weiß, in eine KI packt und so in eine Beziehung mit ihm treten kann? Diese Frage stellte sich Ray Kurzweil, Computerpionier und passenderweise glühender Verfechter des Trans- und Posthumanismus. Dessen Anhänger gehen davon aus, dass menschliche Fähigkeiten durch eine Verschmelzung mit Technologie erweitert werden und der Mensch letztlich durch intelligente Maschinen abgelöst wird.

In der Graphic Novel „Artificial. Mit KI zur Unsterblichkeit“ schildert Kurzweils Tochter Amy, wie sie und ihr Vater ein Experiment wagen, das in gewisser Weise dem Tod ein Schnippchen schlagen will. Gemeinsam entwickeln sie einen Avatar, um Ray Kurzweils Vater, der vor den Nazis aus Wien flüchten musste, in digitaler Form wiederzuerwecken. Seit vielen Jahren ist der Futurologe und Entwicklungsleiter bei Google damit beschäftigt, sich ein Bild von der Geschichte seiner jüdischen Familie zu machen. Alles, was er dazu finden konnte, schlummert in einem Raum voller akribisch geordneter Kartons.

Kurzweils Vater Fred, in Wien noch Fredric oder Fritz Kurzweil, war ein angesehener Musiker und Dirigent, seine Frau Hannah Künstlerin. Mithilfe der US-amerikanischen Mäzenin Gertrude Sumner Ely konnte Kurzweil nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gerade rechtzeitig Visa ergattern, wodurch im Oktober 1938 die Flucht gelang. In den USA hatte er bis zu seinem frühen Tod 1970 zu kämpfen mit Unsicherheiten und der Suche nach Stabilität und zugleich Freiheit. Über seine Zeit in Wien, das Jüdischsein und die Verluste, die der Holocaust für die Familie bedeutete, hat er nie viel gesprochen.

Die Graphic Novel zeigt, wie sich Amy und ihr Vater durch Tagebücher, Briefe und Dokumente graben, sie digitalisieren und einen Chatbot, genannt „Fred-Bot“, damit füttern. Dazwischen bekommen die Leserinnen und Leser sehr persönliche Einblicke in das Leben der Kurzweils, Beziehungsfragen der Tochter und die Verschrobenheiten des visionären Vaters, der durch revolutionäre Synthesizer und später durch sein Konzept der Singularität Berühmtheit erlangte. Letzteres besagt, dass bis 2045 eine Superintelligenz die menschliche übertreffen und damit ein maschinengesteuertes Zeitalter beginnen wird.

„Es ging darum, auszuloten, wie die Gegenwart und die Vergangenheit zusammenpassen“, sagte Amy Kurzweil bei der Präsentation von Artificial auf der Buchmesse in Wien im November 2024. Ähnliches hat sie bereits in ihrem Buch „Flying Couch“, der Geschichte der mütterlichen Seite der Familie, erfolgreich versucht.

In dieselbe Kerbe schlägt Jordan Mechner mit seiner (bisher noch nicht auf Deutsch erschienenen) Graphic Novel „Replay. Memoir of an Uprooted Family“. Mechner ist ein US-amerikanischer Gamedesigner und vor allem durch sein Spiel „Prince of Persia“ bekannt.

Auch er ist schon lange damit beschäftigt, die Geschichte der weitverzweigten, in Österreich verwurzelten jüdischen Familie zu rekonstruieren – mithilfe seines Vaters Franz, der bis zur Flucht seine ersten Lebensjahre in Wien verbracht hatte, und der Memoiren des Großvaters Adolf Mechner. Ähnlich wie Amy Kurzweil springt Mechner zwischen den Zeitebenen (die sich auch farblich voneinander abheben) und verwebt die Veranschaulichung von Krieg, Flucht und Emigration mit der eigenen Biografie, in der – parallel zu Ray Kurzweil – auch Technologie und Erfindergeist eine große Rolle spielen. In kurzen Episoden fügt Mechner assoziativ Erinnerungen zusammen und stellt sie verschiedenen Phasen seines Lebens gegenüber, von den 1980er-Jahren, als er seine ersten Videospiele kreiert, bis in die Gegenwart, wo er mit einer Beziehung kämpft und zwischen zwei Kontinenten pendelt.

„Replay“ handelt zudem von den Erfahrungen von Mechners Großvater als Teenager im Ersten Weltkrieg und von der Fluchtgeschichte seines Vaters, der, von den Eltern getrennt, jahrelang mit seiner Tante Lisa Ziegler im okkupierten Frankreich untertauchen musste, bis die Familie letztlich in New York wiedervereint wurde. Dass sie überlebten, war nicht zuletzt dem Netzwerk an Verwandten und Freunden zu verdanken, die einander halfen und bei der Flucht unterstützten. Mehr als hundert Cousins und Cousinen zählte Jordan Mechners Vater Franz vor dem Vernichtungszug der Nazis, ein Teil der Familie ist heute in Wien beheimatet.

Die beiden Bücher zeigen auf berührende Weise, wie die Erfahrung der Entwurzelung, der Schmerz der Verfolgung und des Holocaust auch in den Nachfahren der Opfer weiterwirken, auch 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist kein Zufall, dass die Aufarbeitung der NS-Geschichte, die so viele Familienstammbäume zerschnitten hat, so oft herausragende Graphic Novels inspirierte – allen voran Art Spiegelmans „Maus“. Das Comicformat mit seiner Möglichkeit, verschiedene Zeit- und Raumebenen auf einer Seite und somit auf einen Blick zu verdrahten, in Situationen hineinzuzoomen und mit Bildern Emotionen zu vermitteln, eignet sich ideal dafür, die oft lücken- und sprunghaften Erinnerungen erfahrbar zu machen. Beide Geschichten machen deutlich, wie vergänglich Erinnerungen sind und wie wichtig es ist, sie zu dokumentieren, um sie am Leben zu erhalten – sei es mithilfe von Graphic Novels oder einer KI.

Diese Kritik erschien zuerst am 01.02.2025 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.

Amy Kurzweil: Artificial. Mit KI zur Unsterblichkeit? Eine Familiengeschichte • Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart • Jacoby & Stuart, Berlin 2024 • 368 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro

Jordan Mechner: Replay. Memoir of an Uprooted Family • First Second / Macmillan, New York 2024 • 320 Seiten • Hardcover • 32,00 Euro

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.