In der Verlagsmühle – Taiyo Matsumotos „Tokyo dieser Tage“

In „Tokyo dieser Tage“ zeigt Mangaka Taiyo Matsumoto eine Innenperspektive auf den japanischen Comicbetrieb.

Dass man als Schreibender am Ende des Tages nur über sich selbst schreibt, ist eine Floskel, die mit Blick auf das Werk von Taiyo Matsumoto doch ihren Wahrheitsanspruch erhebt. In seinem Fall ist es zugleich ein Zeichnender, der, was immer er auch zeichnet, im Modus des Selbstportraits arbeitet – mit variierender Verfremdung. Seine Geschichten tragen den Bezug zu seiner Person auf der Brust: Bislang war das am stärksten in der Reihe „Sunny“ zu beobachten, deren Vignetten und Mikrogeschichten aus einem kleinstädtischen Kinderheim stark an Matsumotos Erinnerungen gebunden waren. Auch in den Kurzgeschichten des Frühwerks „Blue Spring“ setzte er sich mit persönlichen Erfahrungen im späten Teenageralter auseinander. Selbst wenn er sich ins tief ins Genre begibt, etwa in die retrofuturistische Science-Fiction von „Tekkonkinkreet“ oder „No. 5“, entsprechen die so rast- wie heimatlosen Figuren ganz entschieden seiner eigenen Sozialisation. In der aktuellen Arbeit, „Tokyo dieser Tage“, folgt er der Fährte weiter, rückt die Spiegelung von Fiktion und Biografie jedoch nah an die Gegenwart. Es sind nicht die Kindheits- und Jugenderinnerungen, sondern der erwachsene Arbeitsalltag der Manga-Industrie, aus dem Matsumoto seine Erzählung entfaltet.

Interessanterweise platziert er seine Hauptfigur jedoch auf der anderen Seite des Schreib- und Zeichentisches: Nicht ein Mangaka, sondern der Redakteur Shiozawa steht im Zentrum, die Geschichte beginnt mit seiner Kündigung. Der erste Band (von dreien) begleitet die Tage danach: Die empfundene Entzauberung des Berufs, die noch intakten Kontakte mit Kollegen und Wegbegleitern, die mit dem Ausstieg zu kappen drohen, und der Abschied vor seiner Profession, den er dann doch nicht richtig schafft. Als er seine zimmerfüllende Manga-Sammlung verkaufen möchte, plagt ihn in letzter Sekunde sein Gewissen. Von dieser Ambivalenz, zwischen dem Satthaben des Jobs und der Leidenschaft, die doch immer noch da ist, handelt „Tokyo dieser Tage“. So wagt die Erzählung, trotz der Kopplung an Shiozawa als Hauptakteur, auch den Blick zu anderen Menschen, die sich durch das japanische Verlagswesen bewegen. Da ist der aufbrausende Nachwuchs Aoki, mit dem schwierig zu arbeiten ist ob seiner Unberechenbarkeit und in dessen Entwürfen Shiozawa – der ihn bis zur Kündigung betreute – doch ein Talent sieht, das zu retten sich lohnt. Die neue Redakteurin Hayashi tut sich schwer, seine erratische Arbeit zu fördern und sucht Rat. Da sind auch der ehemalige Chef, der um sein Verlagshaus fürchtet und der ältere Zeichner Chosaku, der es sich zu bequem in seinem Beruf gemacht hat und dem mittlerweile genau fehlt, wovon der junge Aoki ein bisschen zu viel hat: Vitalität und Inspiration.

Matsumoto fixiert diese losen Verbindungen, zumeist professioneller Art, immer mit einem aufsteigenden Funken der Freundschaft. Als Klebstoff dienen die sozialen Rituale des großstädtischen Lebens. Davon zeugt der Titel, „Tokyo dieser Tage“: Matsumoto zeigt dieses Tokio in seinem typisch instabilen Stil. Die Räume sind gedrängt, die Gebäude scheinen zu schwanken, der Blick in eine Straße oder über die Stadt hinweg ist immer ein bisschen schief, der weite Winkel der Perspektive erzeugt zugleich eine Sogwirkung hinein in diesen dynamischen urbanen Raum, der das Soziotop der Berufe bildet, von denen Matsumoto erzählt. Es sind Treffen in Cafés, abendliche Trinkgelage im Izakaya, oder auch das Schwingen des Baseballschlägers im Batting Centre – dort halten diese Menschen, beinahe allesamt alte Seelen ihrer Zunft, den Kontakt und tauschen sich aus: Über die gemeinsame Vergangenheit oder darüber, wie sich das Geschäft verändert hat, wie es sich in Zukunft weiter verändern wird. Hier blitzt die Spiegelung: Matsumoto, mittlerweile 57, blickt auf über drei Jahrzehnte in der Manga-Industrie zurück. Immer wieder geht es um den Konflikt zwischen den Wünschen der Künstler und den Forderungen nach besseren Verkaufszahlen. Als seit den späten 1980er Jahren in der Szene Umtriebiger scheint ein Stück von Matsumoto in bald jeder Figur zu stecken: Im wilden Aoki, im mit der Inspiration hadernden Chosaku, im desillusionierten Shiozawa und all den anderen Weggefährten, mit denen er sich trifft. Zwischen diesen oft kurzen Szenen sitzt er immer wieder im Zug, wiederum eine der zentralen Erscheinungen der Großstadt. Einmal rechnet er durch, wie viel Zeit er schon in der Linie verbracht hat, in der er gerade sitzt. Er kommt auf 230 Tage, sitzend im Zug, still grübelnd und doch in Bewegung.

Während dieser Bewegung beginnt Shiozawa bald, der Kündigung zum Trotz, Pläne zu schmieden. Gerade erst raus aus dem Geschäft und doch nicht in der Lage, sich von seiner Leidenschaft zu trennen, möchte er eine letzte Geschichte publizieren. Ohne Verlag, ganz unabhängig und ideell, mit dem Geld seiner vorzeitigen Rente. Tag auf Tag besucht ehemalige Kollegen, viele von ihnen bereits seit Jahren nicht mehr aktiv, um sie für sein Projekt zu gewinnen. Was für eine Geschichte Shiozawa erzählen will, hält dieser Auftaktband noch offen, verkoppelt die Rückschau auf ein Berufsleben mit dem Aufkeimen einer neuen Idee. Der zweite Band von „Tokyo dieser Tage“ ist noch nicht angekündigt. Bei der hochwertigen Hardcover-Ausgabe von Reprodukt und der stilsicheren Übersetzung von Daniel Büchner wünscht man sich zügig eine Fortführung dieser Geschichte(n) – Shiozawas eigener und jener seines verlegerischen Vorhabens.

Taiyo Matsumoto: Tokyo dieser Tage. Band 1 • Aus dem Japanischen von Daniel Büchner • Reprodukt, Berlin 2025 • 240 Seiten • Hardcover • 20,00 Euro

Roman Widera, *93, ist Schriftsteller und lebt in Mainz. Nebst Lyrik und Erzählungen erscheinen regelmäßig Texte zum Kino, unter anderem in 35mm. Seine jüngste Buchveröffentlichung ist bei Brinkmann & Bose erschienen („Zerfallspoetik“, 2023).