In seinem Frühwerk „Blue Spring“ porträtiert Taiyo Matsumoto die Außenseiter seiner Jugend und findet in den Tokioter Vororten der 1980er eine der vielen „verlorenen Generationen“ des 20. Jahrhunderts.
Ungewöhnlich mutet das Umschlagmotiv auf den ersten Blick an, wie dieser junge Mann an seiner Zigarette zieht und auf eine Weise herabblickt, die kaum Gutes verheißt. Das ist nicht das Sujet, wie man es im deutschsprachigen Raum von Taiyo Matsumoto gewohnt ist. Seine Geschichten, oft autobiografisch, sind zuvörderst um Kinderfiguren zentriert, die zwar auch stets irgendwas im Schilde führen, aber eine Unschuld in ihrer Mimik tragen, die Matsumoto immer zu betonen weiß – Arbeiten wie „Sunny“, „Tekkon Kinkreet“ oder „GoGo Monster“, die vor allem aus der blühenden Vorstellungskraft ihrer Perspektivierung schöpfen und den Mangaka international berühmt machten.
„Blue Spring“, 1993 erschienen und jetzt erstmals deutschsprachig verlegt, ist ein Frühwerk und versammelt kurze Erzählungen, die zu Beginn der 1990er Jahre in Magazinen veröffentlicht wurden. Verglichen mit dem Gros seiner Arbeiten hält dieses Buch den kürzesten zeitlichen Abstand zwischen Autor und Figuren: Matsumoto war Mitte zwanzig, sein Ensemble sind hier keine Kinder, sondern Jugendliche, genau auf der zittrigen Grenzlinie zwischen heran- und erwachsen(d). Sehr unmittelbar sind die Geschichten auf diese Weise, ähneln einerseits noch nicht weit zurückliegendem, persönlich Erlebtem und andererseits dem Gossip, den man sich auf den Pausenhof über Andere erzählte: Da sind Schüler, die sich für Mutproben auf dem Schuldach treffen, übers Geländer klettern und sich darin überbieten, wer länger an der Kante des Gebäudes ausharrt, ohne sich festzuhalten. Oder die Gang, die nun schon auf die Eröffnung eines neuen Restaurants warten muss, weil sie sich Hausverbote in allen anderen eingehandelt hat. Solchen Gruppendynamiken stehen introspektive Einzelschicksale entgegen, wie der Problemschüler mit Kontakt zu den Yakuza oder das vielversprechende Baseball-Talent, aus dem dann doch nichts wurde und das nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, wie der letzte und verpatzte Wurf zurückgenommen werden könnte. Sind die Verbindungen dieser Fragmente untereinander lose, teilen sie sich doch den Raum, die Zeit und das Lebensgefühl. Sie sind erfüllt von lakonischem Witz und kreisen um die über allgegenwärtige Langeweile, die gefüllt werden will.
In dieser Langeweile liegt auch die latente Grausamkeit, die „Blue Spring“ umweht (und die der kalte Blick auf dem Cover andeutet): Immer wieder ist es Gewalt, an sich selbst, seinem Umfeld oder ganz Unbeteiligten, die sich in Ausbrüchen entlädt und im schlimmsten Fall die Figuren kappt; von ihrer Unschuld, mehr aber noch von ihrer Zukunft, die als Fragezeichen permanent im Raum steht. Davon, dem Fragezeichen aus dem Weg zu gehen, oder aber es unbarmherzig aus dem Weg zu räumen, erzählen diese Geschichten und skizzieren eine junge Generation, apathisch und wütend zugleich. Die unterschwellige Instabilität, die Matsumotos Panels bis heute innewohnt, die sich leicht krümmenden Räume und der manchmal unangenehm geringe Abstand zu Gesichtern und schlaksigen Körpern, korrespondiert mit diesen Figuren, ständig schwankend, ohne festen Boden und ohne Horizont, an dem man sich ausrichten könnte.
So verengt sich die Welt: Die Bildkader sind schmal und eingrenzend, außenstehende Figuren verlieren nicht nur Details oder geschärfte Konturen – buchstäblich verlieren sie ihre Gesichter. Leere Kopfpartien sitzen auf uniformierten Schultern, Zensurbalken liegen über den Augen. In der Perspektive der Jugendlichen, geprägt von realen oder ersehnten Zugehörigkeiten und Hierarchien, teilt sich die Welt – auch visuell – zwischen Jemande und Niemande. Auf der Suche, sich unter diesen Regeln voneinander abzugrenzen, streunen diese jungen Menschen (hauptsächlich sind es Männer) durch die Vororte Tokios, die seltsam kleinstädtig und verschlafen anmuten, sie besetzen die Schulflure und Toiletten, verwahrlost und übersät mit Graffiti – diese sind leider innerbildlich übersetzt statt mittels Fußnoten, was mitunter störende Textgemenge in den Panels erzeugt und so die Leere der zeichenhaft gesprühten Tags eliminiert.
In diesem Raum, der so langweilig ist wie er ehemals Sicherheit garantierte, warten die Figuren. Auf eine Chance sich zu beweisen, auf die Gelegenheit, mit der Welt abzurechnen, oder: um des Wartens willen, darauf, dass eine Veränderung eintritt, egal welche. Tom Waits hat einmal einen Song über solche, letztlich unausweichliche Veränderungen geschrieben, „You can never hold back spring“. Das klingt verheißungsvoll und doch ein bisschen wie eine Drohung. Beides ist dieser blaue Frühling auch bei Taiyo Matsumoto, als transitive Jahreszeit und Lebensabschnitt dieser Aufwachsenden, als Bewegung, der man sich mehr ausgesetzt sieht, anstatt Einklang mit ihr zu finden. Dieser Frühling wird ausgesessen, vergeudet und ruiniert, während auf Distanz gehalten und gefürchtet wird, was danach sein mag. Dabei ist es doch nur der Sommer, der kommt.
Taiyo Matsumoto: Blue Spring • Aus dem Japanischen von Daniel Büchner • Reprodukt, Berlin 2024 • 216 Seiten • Softcover • 14,90 Euro
Roman Widera, *93, ist Schriftsteller und lebt in Mainz. Nebst Lyrik und Erzählungen erscheinen regelmäßig Texte zum Kino, unter anderem in 35mm. Seine jüngste Buchveröffentlichung ist bei Brinkmann & Bose erschienen („Zerfallspoetik“, 2023).