Erdkunde, Mythen-Punsch und queere Science Fiction

War and Peas blickt gallig auf den Klimawandel, Francois Schuiten und Benoit Peeters erklären die Spuren Brüssels in den „Geheimnisvollen Städten“, Jacques Lobs und Georges Pichards „Odyssee“-Adaption aus den 70ern ist moderner als heutige Versuche, und Jacques Lamontagne klaut schneller als sein Schatten. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.

War and Peas: Liebe Erde

Das Duo War and Peas, bestehend aus Elizabeth Pich und Jonathan Kunz, macht lustige Comics. Aber hinter dem Humor steckt tiefe Verzweiflung. Jedenfalls im Gros der Strips des Sammelbands „Liebe Erde“, die die Themen Klimawandel und Natur einen. Weder pädagogischer noch pathetischer Anstrich, sondern grundsolide Desillusionierung, Lachen am Abgrund. Sagt der Wolf zum Hasen: „Bist du es nicht leid, den ganzen Tag nur Karotten zu essen?“ „Bist du es nicht leid, dass die Menschen deine Nachkommen an die Leine nehmen, während sie dich jagen und dein natürliches Habitat zerstören? Und nein, Karotten sind superlecker.“ Oder die Erde, gefragt, wie es so geht, sagt tiefenentspannt, wie es ist: „Ach, wird schon werden. Aber was euch betrifft…“ Dazwischen gibt es viel Raum für Naturidyllentzauberung. Den Baum macht es offensichtlich geil, wenn er vom Hund angepinkelt wird, der kranke Mond bekommt vom Arzt „Menschen“ diagnostiziert („Sie sind ziemlich gefährlich, sie bespringen ihre Opfer mit kleinen Raketen“), und die kotzende Vogelmutter fabriziert kein Abendbrot, sondern ist einfach nur besoffen. Voller Hybris und Naivität trottet der Mensch in die Szenen: „Was haben denn die Seekühe jemals für uns getan?“ muss sich die Seekuhretterin anhören, und die neue Trump-Realität einer mafiösen Kleptokratie, die die lästige Wissenschaftslogik nur noch so weit duldet, als sie ihrer Bereicherung dient, ist damit doch on point beschrieben.

War and Peas: Liebe Erde • Edition Moderne, Zürich 2025 • 112 Seiten • Klappenbroschur • € 22,00

Christopher Tauber, Marius Pawlitza: Justus Jonas

Über einen Mangel an „Die drei ???“-Comics kann man sich nicht beklagen. Beim Kosmos Verlag erscheint eine Reihe mit kindgerechten Adaptionen der klassischen Romane bzw. Hörspiele, eine weitere mit exklusiven Abenteuern für Fortgeschrittene und seit „Rocky Beach“ (2020) schließlich eine dritte, die die Wege der drei Nachwuchsermittler im Erwachsenenleben als dezente Hardboiled-Stücke nachzeichnet. „Justus Jonas“ ist der zweite Teil dieser Noir-Nostalgie, und Szenarist Christopher Tauber und Zeichner Marius Pawlitza haben sichtlich Spaß daran, den ersten Detektiv in Hollywoods Sündenpfuhl der 70er Jahre zu katapultieren. Dort kommt er mit Müh und Not als recht vergessener Kinderstar der TV-Serie „Die kleinen Strolche“ (eine von Fat Shaming und Mobbing geprägte Erinnerung) über die Runden, bis er auf einer Party die alten Schauspiel-Kolleg*innen wiedersieht und sich ihrem vermeintlichen Avantgarde-Filmkollektiv anschließt. Aber dann folgen Todesfälle unter den Beteiligten der „Strolche“-Serie, ein damit verbundener Popularitätsbooster und viele Nachforschungen im Low-Budget-Hollywood-Milieu, die von Pornosets bis zu den Büroräumen von James H. Nicholsons und Samuel Z. Arkoffs AIP-Studio reichen; dazu Vietnam-Traumata und Post-68er-Stimmung, der Backlash ist spürbar. Eher wie Plot-Silikon wirkt der 90er-Jahre-Handlungsstrang, in dem Peter Shaw und Bob Andrews auf der Suche nach dem seither untergetauchten Justus sind. Aber in den 70ern weidet man sich so schrullig am Skandal, dass für die letzte Ölung nur noch Kenneth Anger gefehlt hätte.

Christopher Tauber, Marius Pawlitza: Justus Jonas. Eine Interpretation • Kosmos, Stuttgart 2025 • 164 Seiten • Hardcover • € 25,00

Mike Alcazaren, Noel Pascual, AJ Bernardo u. a.: Death be Damned

Der kleine Dantes Verlag aus Mannheim verlegt ausschließlich Phantastik-Werke, die sein Inhaber Josua Dantes auf dem hiesigen Markt vermisst, und ist darum stets für eine Überraschung gut. So gibt es seit 2024 einen kleinen Schwerpunkt mit philippinischen Comics, der nun mit „Death be Damned“ erweitert wird. Der abgeschlossene Band ist eine Zombie-Schlachtplatte aus der Romero-Schule. Die Untoten fallen in rasender Geschwindigkeit über die Gäste einer Elite-Party im Hinterland her, einem abstoßenden Trupp aus korrupten Politiker*innen und gewissenlosen Geschäftsleuten, und unschwer ist die Zombiemeute als rasender Sturm der Subalternen konnotiert. Die schwarz-weiß-rote, krude ins Expressionistische neigende Grafik ist nicht immer leicht zu entschlüsseln, und auch die Zombieerzählung als politische Allegorie wird die nächsten Jahre aus gutem Grund erst mal nur noch als Parodie oder Hybrid funktionieren. Trotzdem ist diese Veröffentlichung – erneut sorgfältig ediert mit einem Glossar des Übersetzers Jens R. Nielsen, in dem landesspezifische Besonderheiten der Text- und Bildebene vermittelt werden – als Kennenlernangebot einer hier nahezu unbekannte Comicindustrie per se interessant und mutig.

Mike Alcazaren, Noel Pascual, AJ Bernardo u. a.: Death be Damned • Dantes Verlag, Mannheim 2025 • 236 Seiten • Softcover • € 25,00

Paul Brizzi, Gaetan Brizzi: Der Untergang des Hauses Usher

Die italienischen, in Paris arbeitenden Gebrüder Brizzi sind im Kanon der Weltliteratur zu Hause. Als Comics haben sie u. a. Balzacs „Tolldreiste Geschichten“, Cervantes‘ „Don Quijote“ und – am erfolgreichsten und optisch besonders eindrücklich – „Dantes Inferno“ verarbeitet. Sie kommen vom Animationsfilm, haben in den 90ern an großen Disney-Produktionen mitgewirkt. Diese leichtfüßige Opulenz konterkarieren sie mit Gustave Dorés stilistischer Extravaganz des Unheimlichen, und dies ist auch das augenscheinliche Charakeristikum ihrer Zeichnungen. Man hat also nur darauf gewartet, dass sie bei Edgar Allan Poes Werken angelangen. 11 Kurzgeschichten wurden für die vorliegende Sammlung mit über 100 Illustrationen versehen, die meisten ein- und doppelseitig und im für Splitter typischen übergroßen DIN A4-Format eingebunden. Nein, kein Comic, aber perfekte Illustrationskunst, die Dorés Faden wieder aufnimmt und sich bestens neben seinem „Raven“ macht.

Paul Brizzi, Gaetan Brizzi: Der Untergang des Hauses Usher und weitere außergewöhnliche Geschichten • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 256 Seiten • Hardcover • € 45,00

Francois Schuiten, Benoit Peeters: Brüssel. Der große Traum

Die Überbauung der Senne, der aus kolonialistischer Selbstbesoffenheit errichtete Justizpalast, der Abriss des Maison de peuple, die geplante Zerstörung des Märtyrerplatzes durch massive Enteignungsversuche – das Album „Brüsel“ war auch Francois Schuitens und Benoit Peeters‘ Kritik an den architektur-historischen Fehlentscheidungen der belgischen Hauptstadt. In „Brüsel“ befindet sich im Justizpalast sogar eine Übergangszone, die das kafkaeske Brüsel der „Geheimnisvollen Städte“ mit dem „realen“ Brüssel verbindet. „Entstellt, geschändet und durchsetzt mit namenlosen Bürotürmen“, und trotz alledem, schreibt Benoit Peeters im Vorwort zu „Brüsel“, „hat dieses Chaos, dieser mannigfaltige Unfug seinen Reiz. Er bleibt dem verborgen, der die Stadt eilig durchquert, und er ist offensichtlich für den, der dort wohnt.“ Das war 2008. 2023 haben Peeters und Schuiten, womöglich etwas altersmilder, mit „Brüssel“ eine Liebeserklärung folgen lassen, die nun auch bei Schreiber & Leser die „Geheimnisvollen Städte“-Reihe ergänzt. Es ist eine Bilder- und Texte-Sammlung aus verschiedenen Zeitspannen und für unterschiedliche Projekte, die als launige architekturhistorische Chronik Brüssels einerseits, als Werkschau, Materialkonvolut und Analysewerkzeug der „Geheimnisvollen Städte“ andererseits fungieren kann. Man bekommt also nicht übel Lust, sowohl durch die „Städte“-Comic-Welten als auch die Metropole Brüssel zu flanieren. Ja, wo gibt’s denn so was?

Francois Schuiten, Benoit Peeters: Brüssel. Der große Traum • Schreiber & Leser, Hamburg 2025 • 128 Seiten • Hardcover • € 29,80

Jacques Lob, Georges Pichard: Odysseus

In der aktuell erscheinenden, sehr erfolgreichen französischen Konzeptreihe „Mythen der Antike“ werden selbige so bieder aufbereitet, dass sie sich als schuleinsatztauglich erwiesen haben – pädagogisch einwandfrei und nicht nur deshalb fürchterlich langweilig. Für ihren zwischen 1968 und 1974 in mehreren französischen und italienischen Magazinen veröffentlichten „Odysseus“ haben Georges Pichard und Jacques Lob – beide Pioniere des erotischen Comics in Frankreich, letzterer aber auch Autor von Druillets „Lone Sloane“ und Rochettes „Snowpiercer“; ein, nebenbei, im Vergleich zum Sleaze-Strang ratsameres Lesevergnügen – einen modernen Ansatz gewählt. Mehr Zeitgeist, und das bedeutet heute eben: mehr Zeitkapsel. Der Olymp ist ein Götterraumschiff; das irdische Treiben beobachtet man mithilfe eines Telektroskops; Zeus trinkt Afri-Cola und sieht aus wie Che Guevara im Superheldenanzug; Circes ist die Göttin der Drogen, Hermes ihr Dealer usw. usf. Kurzum: Man scheut nicht den gehobenen Unsinn, bleibt zwar an der Vorlage, aber erstarrt deswegen nicht zur Salzsäule und macht aus dem Boat Movie eine psychedelische Erholungskur im Pop-Art-Kittel. Also nix mit „Hefte raus, Klassenarbeit!“, und darum heute und erst recht heute das sachdienlichere, die Zeiten überdauernde Unterfangen.

Jacques Lob, Georges Pichard: Odysseus • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 160 Seiten • Hardcover • € 39,00

Silence 1+2: Sci-Fi und Horror

Mit SF- und Horror-Comic-Anthologien wird man hierzulande nicht sonderlich verwöhnt, von Genre-Anthologien, die einen queeren Schwerpunkt setzen, gar nicht erst zu reden. Moom Comics heißt ein noch recht junger Kleinverlag aus Berlin, mit dem Gründer Lukasz Majcher, selbst Zeichner der Superhelden-Serie „Power Bear“, für mehr Sichtbarkeit der LGBTQI+-Community im Comic sorgen will. Die neueste Moom-Veröffentlichung versprüht viel Liebe zur Phantastik: Der Auftaktband der Anthologie „Silence“ enthält sechs Kurzgeschichten aus dem Horror- und Science-Fiction-Genre – ohne Text und paritätisch verteilt – und präsentiert mit Nikolai Solowjow, Isago Fukuda, Lefebul, Frieda Kunert, Bruno Giannori sowie Wilbert van der Steen sechs Künstler*innen aus Deutschland, England und den Niederlanden. Das führt wie immer zu einer vielgestaltige Stil- und Konzeptmischung und reicht inhaltlich von allegorischem Body Horror bis zu mitunter geradezu tröstlichen Postapokalypse-Variationen. Allesamt hervorragende Beispiele für die Kunst der Kurzgeschichte, die sich wegen des fehlenden Textes umso gewissenhafter auf die Grammatik des Comics verlassen müssen – eine Edition, die hoffentlich Schule macht.

Silence 1+2 • Moom Comics, Berlin 2024 • 144 Seiten • Softcover • € 25,00

Jacques Lamontagne, Ma Yi: Sheridan Manor Band 2

Der kanadische Künstler Jacques Lamontagne hat ein gutes Händchen dafür, wonach der frankobelgische Phantastik-Markt verlangt. Er zeichnete Istins Mystery-History „Die Druiden“ und die schelmische Grusel-Krimi-Reihe „Pik-As“. Für die Mini-Serie „Sheridan Manor“ hat er hingegen das Szenario verfasst und wildert recht unverfroren und brachial im Garten der Horrorklassiker. Da wird nicht verschämt ein Pflänzchen hie und da am Wegesrand gepflückt, sondern gleich ein ganzer Wald gerodet. Ein altes Herrenhaus im düsteren Wald, ein gewissenloser Hausherr, ein ahnungsloser Gauner mit (halbwegs) freundlichem Gemüt, eine Maid in Not, okkulte Experimente, ein Zauberbuch und eine von Dämonen bevölkerte Parallelwelt – Aberto! Schon stehen alle Türen offen für einen eklektischen Budenzauber, der die spannende Frage aufwirft, was eine KI eigentlich anders gemacht hätte. Nicht ein einziger eigener Gedanke steckt in dieser Story, die weiland für eine sarkastische EC-Kurzgeschichte genügt hätte, heute aber auf zwei Alben aufgebläht mit einem überschäumend selbstüberzeugten Ernst dem Publikum dargereicht wird, als kündeten diese Seiten vom endgültigen Gottesbeweis. Ein großer Sack voll Diebesgut für „Leute mit Niveau“ – diese Chuzpe ist nicht ohne Komik.

Jacques Lamontagne, Ma Yi: Sheridan Manor Band 2: Zurück in die Hölle • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 56 Seiten • Hardcover • € 17,00

Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de

Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film und Literatur, ist Herausgeber und Chefredakteur der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, ND, Taz, Jungle World, Titanic, diezukunft.de, Testcard, kino-zeit.de, Das Viertel und vielen dahingeschiedenen Magazinen. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.