In „Für den Bruchteil einer Sekunde“ zeichnet Guy Delisle das Leben von Eadweard Muybridge nach. Der Pionier schoss die ersten Ultrakurzzeitaufnahmen der Fotogeschichte.
Genial durch Schädeltrauma? Eadweard Muybridge bringt im 19. Jahrhundert die Fototechnik voran, bereichert die Wissenschaft und inspiriert Künstler mit seinem Schaffen bis in jüngste Zeit. Muybridges Name wird für immer damit verbunden sein, dass galoppierende Pferde tatsächlich für Sekundenbruchteile schweben. Vor seinem 30. Geburtstag bleibt der Pionier unauffällig. Erst danach sprudeln die innovativen Einfälle. Neurowissenschaftler führen den Ideenschub auf einen Postkutschenunfall zurück, bei dem Muybridge einen schweren Schlag auf sein Haupt bekommt.
Muybridge, der Mann, der als erster den Flug galoppierender Pferde auf Fotos festhält, kommt als Edward James Muggeridge am 9. April 1830 nahe London zur Welt. Hier, in Kingston upon Thames, wird sein Leben am 8. Mai 1904 auch enden. Muybridges frühe Biografie weist Lücken und Nebulöses auf. Wahrscheinlich beginnt Guy Delisle „Für den Bruchteil einer Sekunde“ darum erst gegen 1850, als der junge Eddie mit dem Schiff in die Vereinigten Staaten aufbricht. Zum Abschied sagt er zur Mutter: „Entweder ich werde jemand, oder du wirst niemals mehr von mir hören.“
In New York, seiner ersten Überseestation, freundet sich Muybridge mit einem Daguerreotypisten an, wie die frühen Fotografen heißen. Muybridge findet das neue Medium interessant: „Wie ein Spiegel, nur eben dauerhaft.“ Feuer fängt er noch nicht. Er verkauft Bücher, wie er es in England gelernt hat. Später siedelt er nach San Francisco um, wo er im eigenen Geschäft neben Büchern und Lithografien auch Fotos anbietet. Der Laden läuft, aber schenkt Muybridge laut Delisle keine Erfüllung. Ihm zufolge beschließt Muybridge aus Frust und Langeweile, 1860 von Kalifornien nach New York zurückzukehren – ab St. Louis mit der Eisenbahn und bis dorthin mit der schicksalhaften Postkutsche. „Am zwanzigsten Tag einer ermüdenden Reise“, schreibt Delisle, „werden die Passagiere brutal aus dem Wagen geschleudert, einer von ihnen stirbt auf der Stelle, die anderen sind schwer verletzt.“ Eine Folge aus acht kleinen Panels zeigt, wie die Kutsche kippt, sich überschlägt und eine Art Böschung herunterfällt.
Muybridges Kopf erhält einen schweren Schlag – der Reisende erleidet ein Schädeltrauma. Als Ideenstimulator ist so etwas in abgeschwächter Form auch von Daniel Düsentrieb bekannt. Entenhausens genialer Erfinder hämmert sich zuweilen auf den Kopf, um Geistesblitze anzuregen. Zur Nachahmung sollte die Methode aber nicht animieren: Für Muybridge hat der Unfall viele unangenehme Folgen. Neun Tage lang liegt er im Koma. Als er erwacht, fehlen ihm Geruchssinn und Gehör. Dafür plagen ihn Kopfschmerzen, er sieht doppelt, und seine dunklen Haare sind nun weiß. Die meisten Symptome legen sich glücklicherweise über Monate. Seine Persönlichkeit ändert sich jedoch nachhaltig. Davor gilt er als unauffällig, umgänglich und sympathisch, danach als schwieriger, ungeduldiger, zänkischer Exzentriker. Außerdem kleidet sich er sich fortan sehr nachlässig. „Einem Landstreicher gleich“, findet Delisle.
Wo und wie Muybridge lernt zu fotografieren, verliert sich in der Dunkelkammer der Geschichte. 1867 kann er es. Er geht auf Fotoexkursionen ins Yosemite Valley, als Mitglied einer Expedition der US-Regierung nach Alaska und lichtet im Auftrag Wohlhabender deren noble Residenzen ab – Raum für Raum, auch jene von Senator und Eisenbahnmogul Leland Standford. Der hat eine Wette laufen: Während ein großer Teil der Gelehrten und Fachleute glaubt, Pferde hätten jederzeit mindestens einen Huf am Boden, behauptet Stanford, die Tiere würden im Galopp kurzzeitig abheben. Um das Schweben einzufangen, beginnt Muybridge ab 1872 mit Fotoexperimenten. Im Mai 1878 stellt er auf Stanfords Ranch in Palo Alto eine aufwändige, ausgedehnte Anlage fertig. Darin galoppieren Pferde vor einer weißen Fläche entlang und lösen dabei nacheinander zwölf Kameras aus, die scharfe Fotos schießen.
Damit die Apparate so schnell reagieren können, hat Muybridge ihre Verschlussmechanik verbessert und elektrische Auslöser eingeführt. Für klare Bilder mit einer Tausendstelsekunde Belichtung hat er ständig die Fotochemie nachgerüstet. Muybridges fototechnische Errungenschaften werden ausdrücklich als Vorbild für einige Spezialaffekte im Kultfilm „Matrix“ (1999) genannt. Seine Bewegungsstudien inspirieren Künstler wie beispielsweise Francis Bacon. Was damals mehr zählt: Die Fotos, die beweisen, dass sich galoppierende Pferde tatsächlich einen Moment komplett in der Luft befinden, sind ein Triumph für Muybridge. Die Krönung seiner Mühen. Er publiziert die Fotoserie, meldet ein Patent an, hält öffentlich Vorträge und stellt weitere Bewegungsstudien mit Tieren, nackten und leicht bekleideten Frauen und Männern an. Er erfindet sogar noch eine sensationelle Apparatur, das Zoopraxiskop. Es kann erstmals Fotoserien in bewegte Bilder verwandeln. Muybridge feiert riesige Erfolge, muss aber auch tiefe Schmach erdulden.
Guy Delisle hat mehrfach demonstriert, wie toll er dokumentarische Stoffe mit Comics erzählen kann. Bei „Für den Bruchteil einer Sekunde“ bettet er die Biografie seiner Hauptfigur in eine kurze Geschichte der frühen Fotografie und des frühen Films ein. Das liest sich sehr geschmeidig. Allerdings sagt Muybridge laut anderen Quellen das überlieferte Abschiedszitat „Entweder ich werde etwas…“ zu seiner Großmutter, nicht zur Mutter. Woanders prallt die schicksalhafte Postkutsche gegen einen Baum. Delisles Darstellung zeigt weit und breit keinen. Es gibt weitere Leerstellen, Unschärfen und Abweichungen zu anderen Quellen. Hat sich Delisle ein paar Freiheiten erlaubt, damit seine Erzählung besser fließt? Oder stützt er sich auf weniger bekannte Quellen? Das lässt sich leider nicht feststellen, weil ein entsprechendes Verzeichnis fehlt. Unabhängig davon, für sich allein stehend, ist „Für den Bruchteil einer Sekunde“ aber ein rundes, unterhaltsames und informatives Werk. Es zeichnet zudem ein teils erstaunliches Zeit- und Sittenbild.
1871 heiratet der Fotograf die junge hübsche Fotolaborantin Flora Downs. 1874 kommt Sohn Florado Helios zur Welt. Muybridge hält ihn für seinen Sprössling, bis ihm ein Foto des Babys mit der Aufschrift „Little Harry“ in die Hände fällt. Er erfährt, dass das Kind wohl aus einer Beziehung stammt, die Flora seit längerer Zeit mit dem Lebemann Harry Larkyns pflegt. Am 17. Oktober 1874 fährt Muybridge zu Larkyns. Er zieht den mitgebrachten Revolver und erschießt den Nebenbuhler. Eine geplante Tat, keine Kurzschlusshandlung. Bei der Polizei gibt Muybridge die Tat auch zu. Ein Gericht spricht ihn im Februar 1875 dennoch frei – wegen „entschuldbaren Totschlags“! Zum Trost sei erwähnt: Es ist in Kalifornien der letzte Freispruch für einen Mörder, der seine Tat freiwillig gestanden hat.
Guy Delisle: Für den Bruchteil einer Sekunde – Das bewegte Leben von Eadweard Muybridge • Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock • Reprodukt, Berlin 2025 • 208 Seiten • 26 Euro
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg als freier Autor unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.