„Du wirst die Renommée, unseren großen Einbaum besteigen! Was für ein Abenteuer, ein Kanake in Paris… Du wirst als erster deiner Rasse Frankreich sehen“, erklärt der französische Naturforscher Pierre Delauny freudig Éloi, einem jungen Mann aus Neukaledonien im südlichen Pazifik. Éloi ist für die Reise auserwählt worden, allerdings nicht von Gott, wie der dem lateinischen Eligius – „der von Gott Auserwählte“ – entlehnte Name nahelegt, sondern von den Entscheidungsträgern eines französischen Forschungsschiffes, das 1837 mit der Aufgabe der Kartografierung Neukaledoniens in den Pazifik aufgebrochen war. Nicht nur Informationen über die 15 Jahre später als französische Kolonie in Anspruch genommene Inselgruppe will die Fregatte zurück nach Europa bringen, sondern auch einen lebendigen Beweis der vermeintlichen Überlegenheit der Europäer: ein menschliches Forschungsobjekt, einen zum Christentum zu bekehrenden und mit den europäischen Traditionen vertraut zu machenden unzivilisierten Wilden.
Das Autorenduo Younn Locard und Florent Grouazel hat sich mit seiner ersten Graphic Novel „Éloi“ in die Untiefen der französischen Kolonialgeschichte begeben und entfaltet auf 200 Buchseiten die Dynamiken der europäischen Unterwerfungsstrategien. Das Schiff, über Monate auf hoher See, wird dabei zu einem Mikrokosmos, in dem sich Akteure und Strukturen des Kolonialsystems spiegeln, sich Dynamiken und Widerstände entwickeln und schließlich die Ordnung nur mit Gewalt wieder hergestellt werden kann.

Younn Locard (Autor), Florent Grouazel (Autor und Zeichner): „Éloi“.
Avant-Verlag, Berlin 2015. 224 Seiten. 29,95 Euro
Ein Comic, der koloniales Machtstreben und europäisches Überlegenheitsgefühl thematisiert, muss sich besonders sensibel mit den eigenen Bildern auseinandersetzen, um nicht Gefahr zu laufen, Stereotype und Klischees der „Wilden“ und „Unzivilisierten“ zu reproduzieren. Das französische Autorenduo Locard und Grouazel umschifft die Problematik des Blicks auf den Fremden, indem es die Ambivalenz der einzelnen Akteure aufzeigt. Weder sind der Kommandant, der Naturforscher noch der Priester einzig und allein böse, noch wird Éloi verklärt oder zum Opfer stilisiert. Er bleibt ebenso vielschichtig und uneindeutig wie die anderen Personen, wird zum Mörder und Verräter an seinem einzigen Freund und schließlich zum Opfer der widerstreitenden Parteien. Diese in den Akteuren angelegte Ambivalenz findet sich auch in der Ästhetik des Comics wieder.
Mit klarem Strich und Liebe zum Detail sind die Seiten durchkomponiert, werden jedoch vor allem von einem Aspekt dominiert: von einem blauen Farbton, der einzigen Zusatzfarbe im ansonsten schwarz-weißen Album. Ebenso wie die erzählte Geschichte ein Schwarzweißdenken überschreitet, finden die Zeichner einen Weg, diese Grundhaltung auch ästhetisch umzusetzen. Blau steht für das Göttliche, aber ebenso für die Sehnsucht, die auch Éloi umtreibt, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach neuen Eindrücken und neuen Möglichkeiten. Eine Hoffnung, die sich für ihn nicht erfüllen kann. Éloi wird niemals Paris sehen, er ist als Verlierer der Geschichte vorherbestimmt und Neukaledonien gehört bis heute zu Frankreich.
Dieser Text erschien zuerst am 23.06.2016 in: Neues Deutschland
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „Éloi“ (Avant-Verlag)