Birgit Weyhe hat sich in ihrem neuen Comic ein besonderes Kapitel deutscher Geschichte vorgenommen. Es geht um deutsche Staatsbürgerinnen, die in der argentinischen Militärdiktatur verschleppt wurden und vom Auswärtigen Amt keine Unterstützung bekamen.
„Schweigen“ heißt der Comic – und er beginnt mit einer Reflexion über das Schweigen, die tief in die Geschichte geht. Er erzählt von den Menschen, die im Nationalsozialismus geschwiegen haben, wenn verfolgte Juden von Nachbarn versteckt wurden. Und von den anderen, die zum Terror gegen ihre jüdischen Nachbarn geschwiegen haben. Es erzählt vom Schweigen der Täter und Opfer nach 1945 und davon, wie sich das Schweigen auch nach der Revolte der 68er-Generation in der 68er-Generation fortgesetzt hat.
Birgit Weyhe zeichnet nach, wie die Bundesregierung und das Auswärtige Amt schwiegen und sich eben nicht für die von der Militärjunta verschleppten deutschen Staatsbürger*innen einsetzten, weil das aus wirtschaftlichen Gründen opportun erschien. Dieses Schweigen bringt Weyhe in ihrem Comic mit dem Nationalsozialismus zusammen und zitiert dafür unter anderem Hannah Arendt, die nachweist, dass die gesamte Gesellschaft aus Mitwissern oder sogar Komplizen bestand und durch ihr Schweigen die eigene Schuld unbestreitbar macht. Schweigen hat Tradition in der Bundesrepublik – und wird auch in der Demokratie fortgeführt.
„Schweigen“ ist ein Sachcomic, der die unrühmliche Geschichte deutscher Politik an Schicksalen von zwei Verschleppten der argentinischen Militärjunta aufzeigt: Nora Marx und Elisabeth Käsemann. Auch hier beginnt Birgit Weyhe mit dem Nationalsozialismus und erzählt, wie Ellen, die Mutter von Nora, vor den Nationalsozialisten fliehen muss und schließlich in Argentinien landet. Ellen vermisst ihre Familie, die als Juden im Holocaust umgebracht werden. Argentinien wird für Ellen zur neuen Heimat, auch weil das Land eine ähnliche urbane Kultur wie in Europa hat. Dass nach 1945 viele Nazis nach Argentinien fliehen, nimmt sie hin. Ihre Kinder werden später das Land wegen der Militärdiktatur verlassen. Die historischen und politischen Fakten baut Birgit Weyhe als theoretische Exkurse ein und schafft es so, die Biografien der Menschen nahbar zu erzählen.
Nora Marx bleibt in Argentinien und schließt sich der Widerstandsbewegung an. Als sie verschleppt wird, fühlt sich das deutsche Auswärtige Amt nicht zuständig. Die bittere Begründung: Nora Marx sei keine Deutsche – die Nationalsozialisten hatten allen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Spätere Bemühungen, diese wiederzubekommen, blieben erfolglos.
Dass das Auswärtige Amt auch bei Menschen mit deutschem Pass untätig blieb, zeigt Birgit Weyhe am Beispiel von Elisabeth Käsemann. Die Studentin will für eine gerechte Welt kämpfen und geht Mitte der 70er Jahre nach Argentinien, um bei einem Hilfsprojekt mitzuarbeiten. Auch sie wird Teil der Widerstandsbewegung, auch sie wird verschleppt und gefoltert. Eine britische Freundin, die selbst verschleppt wird, hört ihre Schreie im Foltergefängnis.
Birgit Weyhe hat in ihren Comics immer wieder die grauenhaften Erfahrungen von Krieg und Gewalt gezeichnet und dafür eine eigene, abstrakte Bildsprache gefunden. Sie zeichnet Menschen, die immer mehr zur Kontur werden und unter schwarzen Flächen verschwinden. Flächen, die mitunter aufgekratzt werden und wie Schürfwunden das Unerträgliche zeigen. So macht die Comic-Künstlerin auch Unsagbares erzählbar. Überhaupt finden sich in „Schweigen“ viele Stilmittel, die Weyhe immer wieder verwendet. Da gibt es Muster, wie die geblümte Totenkopf-Tapete, die Kultiviertheit und den Tod so nah zusammenbringt. Ein Baum hat Hakenkreuz-Wurzeln. Und immer wieder Vögel, die eine Metapher für Freiheit und Zuversicht sind. Gerade durch diese Bilder gelingt es der Zeichnerin, dermaßen sperrige Themen zugänglich zu machen.
Die britische Freundin von Elisabeth Käsemann kommt auf Druck der britischen Regierung frei. Elisabeth Käsemann ist bis heute verschwunden. Der zuständige deutsche Diplomat ging mit dem Chef der argentinischen Folterer lieber Tennis spielen und ließ sich Informationen aus den Verhören bringen. Die aufmüpfigen Studierenden waren der Bundesregierung in den 1970er Jahren suspekt, und die Exporte der deutschen Industrie nach Argentinien stiegen während der Militärdiktatur rasant an. Birgit Weyhe hat das mit ihren Recherchen dokumentiert. Ein dunkles Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte, über das nicht mehr geschwiegen werden sollte.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.06.2025 auf: radio3 rbb
Birgit Weyhe: Schweigen • Avant-Verlag, Berlin 2025 • Hardcover • 368 Seiten • 39 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.