Ein zentrales Element der vermeintlichen Volkserziehung im NS-Staat war die Traumfabrik Kino. Das Hitler-Regime fing zügig nach der Machergreifung mit der Gleichschaltung der deutschen Filmindustrie an, die, vornehmlich in Gestalt der UFA, auf die nationalsozialistischen Ziele zugeschnitten wurde. Hetzfilme wie „Jud Süß” oder „Kolberg“ repräsentieren diese NS-Filmpropaganda, aber es waren auch die leichten Unterhaltungs- und Durchhaltefilme, die eine mindestens genauso zentrale Rolle für die NS-Kulturpolitik spielten.
Die preisgekrönte Hamburger Comickünstlerin Isabel Kreitz erzählt nun in ihrer lange erwarteten neuen Graphic Novel „Die letzte Einstellung“ von der UFA unter Goebbels, vom letzten großen Propagandafilm des Regimes, der noch gedreht wurde, als die Alliierten schon vor den Toren Berlins standen. Ebenso geht es um „verbotene Autoren“ und das Thema „Inneres Exil“, inspiriert vom Leben und Schaffen Erich Kästners. Im Presse-Interview spricht Isabel Kreitz über die Hintergründe ihres neuen Buchs.
Liebe Isabel, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns über dein neues Buch „Die letzte Einstellung“ zu plaudern. Zu Beginn würde ich gerne ein bisschen mehr über dich und deine Laufbahn erfahren. Weißt du noch, wann und wie du auf das Medium Comic gestoßen bist? Was hat dich – zunächst als Leserin, später als Autorin – zu dieser Kunstform hingezogen?
Gelesen habe ich Comics bis zu Beginn meiner eigenen Laufbahn nicht viele, die wenigen aber wieder und wieder. Denn was damals in Deutschland an Comics erschien, war für Schulkinder nur zu einem kleinen Teil, in Bibliotheken etwa, zugänglich. Meistens „Tim und Struppi“, „Asterix“ und Disney. Wenn Kinder Glück und eventuell ältere Geschwister hatten, konnte es sein, dass auch die deutschen „MAD“-Hefte oder die Horror-Comics von EC dabei waren. Vielleicht bei Mitschülern auch „Clever & Smart“, „Isnogud“, die Abenteuer- und Western-Serien aus Frankreich. Auf keinen Fall aber Geschichten, die unsere eigene Lebenswirklichkeit wiedergaben, wie es heute in Comics üblich ist.
Erzählen mit Bildern hat mich fasziniert. Ins Kino kam man als Kind ja nicht mal so eben, aber ich war ein leidenschaftliches Fernsehkind. Vielleicht war der eingeschränkte Zugang zum Bewegtbild Schuld, dass ich anfing zu kompensieren und kleine Bilder gezeichnet und aneinandergeklebt habe, bis ein Comic in Form einer Filmrolle daraus wurde.
Und kannst du uns auch etwas zu deinen ersten Schritten als Comickünstlerin in den 1990ern erzählen? Weißt du noch, wie die Szene in Deutschland nach der Wende war? War es schwierig für dich, Fuß zu fassen und Kontakt zu gleichgesinnten Künstler*innen aufzunehmen?
Die Szene war klein, aber sehr lebendig! Und nein, ich hatte überhaupt kein Problem Anschluss zu finden. Im Gegensatz zu etablierteren Kunstformen gab es in unserer Nische kaum Konkurrenzdenken, ich habe die Kollegen*innen immer als sehr solidarisch und auf Augenhöhe erlebt. Und dann kam da dieser unfassbar vitalisierende Input von den comicschaffenden Grafiker*innen und Illustrator*innen aus den neuen Bundesländern. Zuvor waren deutsche Comiczeichner und -zeichnerinnen ein etwas verschnarchtes Grüppchen von Fans, größtenteils männlich, die nur selten etwas Originäres hervorbrachten, das nicht die amerikanischen und französchischen Vorbilder nachgeahmt hat. Die Wende war eine Art Vitaminspritze für unsere Kunstform, auch in der Parität von Männern und Frauen.
Du bist heute vor allem für den sehr filigranen und detaillierten Bleistiftstrich bekannt. Mit welchen Materialen arbeitest du und wie gehst du dabei vor, wenn du eine Comicseite gestaltest?
Der Stil hat sich den Möglichkeiten der Reproduktion angepasst. Vor der Zeit der Computer und Scanner gab es nur den Fotokopierer und die klassischen Druckmethoden, um Zeichnungen zu reproduzieren. „Think Repro“ war der Leitfaden, man hat lieber kontrastreichere Stilmittel benutzt, damit im Druck nichts verloren ging. Seit die Zeit der Scanner angebrochen ist, durften die Mittel filigraner werden. So habe ich ebenfalls mehr und mehr Grauwerte benutzt, um näher an die Ästhetik der Schwarzweißfotografie zu kommen. Mittlerweile schraube ich das etwas zurück und habe mich mit dem iPad angefreundet, auf dem ich meine Reinzeichnungen mache. Die Vorzeichnungen sind jedoch analog geblieben. So bewahre ich ein besseres Gefühl für die Komposition der gesamten Seite.
Dein letztes Projekt war die zehnbändige Reihe „Die Unheimlichen“ bei Carlsen, die du als Herausgeberin betreut und zu der du auch einen Titel beigesteuert hast. Wie war es für dich, nicht nur als Künstlerin für deinen eigenen Beitrag, sondern als Lektorin auch die Arbeiten von so profilierten Kolleg*innen wie Nicolas Mahler, Ralf König und Birgit Weyhe verantwortlich zu sein?
Eigentlich war es eher die Form, die den Ausschlag zu dieser Idee gab. Ich vermisse die Kürze, die ich aus der Zeit der Comicalben und -hefte kenne und wollte eine Reanimation versuchen, die im klassischen Buchhandel funktioniert. Dazu kam die inhaltliche Klammer: Klassische Horror-Geschichten, die eine Inhaltsangabe für den Verkauf meist überflüssig machten. Und obendrauf das Sahnehäubchen mit der Kirsche: neu illustriert und interpretiert von den besten, State-of-the-Art-Comic-Künstler*innen im deutschsprachigen Raum. Was soll ich sagen? Es hat im Handel leider nicht funktioniert. Aber ich bin froh, es probiert zu haben, denn jeder Titel ist ein eigenständiges und wunderbares Werk geworden! Und das Lektorat hat mir viel Spaß gemacht. Ich kann nur hoffen, dass es gegenseitig war.
Parallel zu deinen erwachsenen Comicstoffen hast du in den letzten Jahren immer wieder Kindercomics veröffentlicht, vor allem Adaptionen der Kinderbücher von Erich Kästner. Was bedeutet dir Kästner und sein Werk? Und wie war das für dich, seine Klassiker in Comics zu übertragen?
Die Kinderbücher von Erich Kästner sind für mich eine Art geistiges Kinderzimmer, in dem ich mich sehr wohl gefühlt habe. Das teile ich wahrscheinlich mit vielen meiner Altersgenossen. Der Anstoß Comicadaptionen zu machen war weniger emotional als pragmatisch: Ich musste mich von einem Herzensprojekt, der Comicadaption der „Buddenbrooks“, verabschieden und suchte Kompensation. Ich bekam die Rechte an dem Buch nicht und musste Arbeit und Idee begraben. So bin ich auf den Gedanken gekommen, es erst einmal mit meinem Lieblings-Kinderbuch zu versuchen, wenn es mit dem Lieblings-Roman schon nicht klappt. Das war „Der 35. Mai“ von Erich Kästner. Anfang der 2000er stand man der Ehe von Comic und Literatur noch sehr skeptisch gegenüber, es war gar nicht einfach, den Dressler-Verlag von der Idee zu überzeugen und dazu zu bringen, mir die Adaption zu erlauben. Aber irgendwie ging es dann doch, und so sind inzwischen vier Bücher daraus geworden, die sich bis heute gut verkaufen.
„Die letzte Einstellung“ ist deine erste buchlange Erzählung seit „Rohrkrepierer“ (2015). Kannst du uns ein bisschen über die Entstehung und die verschiedenen Phasen, die das Projekt durchlaufen hat, erzählen? Wie kamst du auf den Stoff? Warum wolltest du diese Geschichte erzählen?
So um 2008 herum bekam ich das Buch „Das Leben geht weiter – der letzte Film des Dritten Reichs“ von Hans-Christoph Blumenberg geschenkt. Gleichzeitig bin ich durch die Arbeit an den Kästner-Comics und durch Kästners Biografie etwas tiefer in die Schicksale derer eingestiegen, die in die innere Emigration gingen, und fand die Melange beider Stoffe naheliegend. Mit der Kästner-Biografie als Blaupause ließen sich Figuren erfinden, die sich so wunderbar mit der Entstehung des letzten Films des „Dritten Reiches“ verweben ließen.
In deinem Protagonisten Heinz Hoffmann und seiner Lebens-/Schaffensgeschichte finden sich zahlreiche Verweise zur Person Erich Kästner, aber auch viele Abweichungen. Wie viel Kästner steckt in Hoffmann, wie viel Attribute von anderen Zeitgenossen hast du ihm eingeschrieben – und wie bist du dabei vorgegangen, diese Figur zu entwerfen?
Wenn der Vergleich erlaubt ist: Beim Entwurf seines „Mephisto“ meinte Klaus Mann nicht die tatsächliche Person, seinen Schwager Gustav Gründgens, sondern den Typus, den er repräsentiert. Alles andere ist Fantasie. Natürlich hatte ich beim Schreiben und Zeichnen Erich Kästner vor Augen, seinen Sprachduktus, sein Aussehen. Nur würde ich niemals behaupten, seine tatsächlichen Motive und Gefühle wiedergeben zu können. Heinz Hoffmann ist meine Interpretation, eine Erfindung mit realem Hintergrund.
Mindestens genauso wichtig wie Hoffmann ist deine weibliche Hauptfigur Erika Harms. Erika ist an der historischen Figur Luiselotte Enderle angelehnt, die wie ihr fiktionaler Gegenpart als Dramaturgin bei der UFA arbeitete. Es gibt viele Passagen, in denen Erika Heinz den Rang abläuft.
Als Frau kann ich es schlecht vermeiden, den weiblichen Standpunkt einzunehmen, gerade wenn ich wieder auf ein so typisches Gespann aus Künstler und Muse stoße wie bei Kästner und Enderle. In den Selbstzeugnissen Kästners spielt seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle nur eine untergeordnete Rolle. Aus seinen Briefen an sie geht hervor, wie angespannt ihr Verhältnis bis zuletzt war. Da braucht es nicht viel Fantasie, die weibliche Hauptfigur zu animieren.
In den Figuren von Heinz und Erika legt „Die letzte Einstellung“ eine nuancierte und vielschichtige Betrachtung der individuellen Schuldfrage vor – und der Möglichkeiten, sich als Einzelperson in einem Unrechtssystem der kollektiven Schuld zu entziehen. Was fasziniert dich an diesem Themenkomplex?
Es läuft immer auf die eine Frage hinaus, die sich jeder stellen muss, wenn es so weit ist: Kann es ein richtiges Leben im falschen geben? Für mich ein zentrales Motiv für fast alle meine Bücher.
„Die letzte Einstellung“ spielt zu großen Teilen im Milieu der Berliner Filmbranche, die zur NS-Zeit komplett Goebbels‘ Propagandaministerium unterstellt war. Was hat dich an diesem Setting interessiert?
Genau wie in „Die Sache mit Sorge“ hat mich das Paralleluniversum interessiert, die kleine friedliche Gemeinschaft, die hier mitten im Krieg vor sich hinwurschtelt und die Augen verschließt vor allem, was ihre Existenz bedroht. In Tokio war das der sogenannte deutsche Compound, das Botschaftsgelände mit der deutschen Gemeinde aus Kaufleuten und Diplomaten, die vom Krieg in der Heimat so gut wie nicht berührt wurde. Hier sind es eben das nahezu unzerstörte Studio der UFA in Babelsberg und die Arbeit am letzten Film des „Dritten Reichs“, die Schutz vor der Einberufung boten.
Gibt es schon neue Projekte, die du derzeit anschiebst?
Nach fast acht Jahren Arbeit an dieser Geschichte muss ich erst mal Luft holen. Es ist schon ein gewaltiger Kraftakt, so ein umfangreiches Buch zu erarbeiten; man muss sich schon sehr sicher sein, dass der gewählte Stoff der Richtige ist, um das durchzuhalten. Darum lasse ich mir Zeit, neue Themen zu sondieren.
Isabel Kreitz: Die letzte Einstellung • Reprodukt, Berlin 2025 • Hardcover • 312 Seiten • 29 Euro