USA, LSD, DIY, ZAP

Wir schreiben das Jahr 1968, wieder mal typisch. San Francisco. Ein hagerer Mann mit Brille schiebt einen Kinderwagen vor sich her, im Schlepptau eine schwangere Frau. Im Kinderwagen, nein, kein Kind, sondern: Comics. „Zap Comix“. Geschrieben und gezeichnet von Robert Crumb. Dem legendären Typen mit dem Kinderwagen. Und weil wir schon bei der Legende sind: Die Kunde von einer völlig neuen Form von Comics verbreitete sich in Windeseile, die Underground-Comix waren geboren. Comix mit x, wie in X-rated, natürlich nur für Erwachsene, jenseits des Comics Code, der als freiwillige Selbstkontrolle der Hefte geschaffen wurde und besorgte Eltern beruhigen sollte. In Superman kamen keine schmutzigen Worte vor, keine Nacktheit, keine psychischen Stimulanzien und keine umstürzlerischen Parolen. In Comix schon.

Robert Crumb (Autor und Zeichner): „Fritz the Cat“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders. Reprodukt, Berlin 2015. 128 Seiten. 29 Euro

Und „Zap“ war mit wenigen Nummern Robert Crumbs Einstieg in die Erfolgsabteilung der Comix beziehungsweise des Underground. Wenn es nach der Legende gegangen wäre, dann hätte Robert Crumb einen geraden Weg zum Reichtum und Weltruhm vor sich gehabt, vom Kinderwagenverkäufer xerokopierter dünner Hefte zum millionärischen König der Comix. Aber es wurde ein eher langer und gewundener Weg. Immer wieder ging nämlich auch alles schief, wie zum Beispiel das groß angekündigte „Life“-Interview, für das Crumb ganz in der Art eines durchgeknallten Underground-Künstlers posieren musste und das zum Glück nie erschien.

Selbst in seinen besten Zeiten erlebt Robert Crumb mehr Niederlagen und Enttäuschungen als andere ihr Leben lang. „Zap“ Nr. 4, noch so ein Beispiel, wurde zum Präzedenzfall für die neue Zensur, die einsetzte, nachdem sich der Underground-Comic auf die Kunstfreiheit berufen hatte. Der Skandal lag darin, dass ein elfjähriges Mädchen sich ein Exemplar besorgt hatte, zum Entsetzen seiner Eltern und seiner Lehrer. Was im Heft zu sehen war, könnte heute Orangensaft bewerben … Selbst Crumbs Zeichnungen in einem Szeneblatt wie „East Village Other“ wurden von den Herausgebern meistens zensiert. Verdammte Spießer, meinte Crumb. Er sollte in die Geschichte der grafischen Kunst eingehen als der Mann, der einfach nicht Nein sagen kann. Er lässt sich immer wieder über den Tisch ziehen oder zu Sachen nötigen, die ihm nicht behagen. Ihm bleibt nur, sich in seinen Comics dafür zu rächen. Oder er flüchtet sich in Psychosen und erleidet Nervenzusammenbrüche.

Ein Jahr nach der besagten legendären Kinderwagenszene ist er immerhin berühmt genug, um mit ziemlich unmoralischen oder, wie man damals sagte, „abgefuckten“ Angeboten belästigt zu werden. So beschließt er, aufs Land zu ziehen, um dem Rummel um seine Person zu entgehen. Ein Auftrag des „New Yorker“ hindert ihn daran, und dann will auch noch ein gewisser Ralph Bakshi um jeden Preis einen Fritz-the-Cat-Film machen. Fritz the Cat ist Crumbs bis dahin populärste Schöpfung: ein anthropomorpher Kater mit unstillbarem Appetit auf Sex, Drogen und allem, was Vergnügen bereitet. Der Film? Eine mittlere Katastrophe. Die Folge: Ärger. Es dauert bis in die Neunzigerjahre, bis Robert Crumb wirklich zur Ruhe kommt, mehr oder weniger, wenn auch nicht in seiner geliebten amerikanisch-arkadischen Prärieheimstatt, sondern auf einem Bauernhof in Südfrankreich. Robert Crumb hatte es schwer, eine gewisse Berühmtheit in der Szene zu erlangen. Noch schwieriger aber war es, ihr wieder zu entkommen.

Robert Crumb (Autor und Zeichner): „Mein Ärger mit den Frauen“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Harry Rowohlt. Reprodukt, Berlin 2013. 96 Seiten. 29 Euro

Ganz so einfach, wie die Legende will, war die Sache aber doch nicht. Es gab zu dieser Zeit (wir befinden uns wieder im Jahr 1968) mehrere Versuche, andere Comics zu machen und sie anders zu vertreiben, und sie hatten Namen wie „Foo“ (gegründet von Charles und Robert Crumb) oder „ECCH!!“ und kamen kaum über lokale Bekanntheit hinaus. Eine Comic-Revolution aber lag in der Luft, und sie kam, anders als in Europa, nicht aus den etablierten Kreisen, sondern von den Semi-Amateuren des DIY und der alternativen Szenen. Wie alle anderen Kulturbereiche suchte die grafische Kunst nach einer Sprache der Befreiung. Und der Mainstream-Comicmarkt in den USA war trotz spürbarer Modernisierungen wie bei Marvels Spiderman oder Fantastic Four eine ziemlich einheitliche, konventionelle und glatte Angelegenheit. Der Graben zwischen professionellen und künstlerischen Comics war in den USA damals viel tiefer als in Europa. Gilbert Shelton, Kim Deitch, Art Spiegelman, S. Clay Wilson, Trina Robbins, Vaughn Bodé – die unterschiedlichsten Zeichner entschieden sich für Selbst- und Kleinverlage, für die Freiheit der Autoren, für Zensurfreiheit, für Sex & Drugs & Rock ’n‘ Roll, für schlechte Heftung und billiges Papier und, yeah, für den Preis, den sie mit ihrer Unabhängigkeit zahlten.

Ökonomisch nämlich hatten die alternativen amerikanischen Comics zunächst kaum die Bedeutung der Nouvelle Vague in Europa. Das war nicht vergleichbar mit den französischen bandes dessinées. Dafür war ihre kulturelle Energie um einiges heftiger. Zorniger, obszöner. „Zap Comics“ jedenfalls entsprangen nicht dem Wunsch, eine eigene Form der selbstbestimmten Comicdistribution ins Leben zu rufen. Crumbs legendäre Kinderwagenaktion war eine Trotzreaktion darauf, dass ein Verleger die Zeichnungen bei ihm bestellt hatte und dann abgetaucht war. Der 25-jährige Robert Crumb hatte begriffen, dass man mit radikaler Zeichenkunst allein keine dreiköpfige Familie ernähren kann.

Seine Figuren verhalten sich oft wie echte Arschlöcher

Robert Crumbs Comics & Stories begleiten einen lebenslangen Befreiungsprozess. Er wurde am 30. August 1943 in Philadelphia als Sohn eines Berufssoldaten geboren. Und wenn man Terry Zwigoffs empathisch-genauer Filmbiografie von 1994 glauben darf, war das Elternhaus vielleicht nicht die Hölle, aber auch nicht allzu weit davon entfernt. Als drittes von fünf Kindern wuchs Crumb zwischen einer restriktiven Außenwelt und der Traumwelt seines älteren Bruders Charles auf. Dessen totale Verweigerung führte zu einer handfesten Psychose und endete im Suizid. Robert widmete sich dem Leidensweg seines Bruders in „Fuzzy Bones“. Disney und Fernsehen, Kino und Comics waren für die beiden die eigentliche Wirklichkeit. Die Familie, die Schulen, die Jobs, die Straßen waren nur Abbilder eines fundamentalen Wahnsinns.

Robert Crumb (Autor und Zeichner): „Amerika“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Harry Rowohlt und Heinrich Anders. Reprodukt, Berlin 2019. 96 Seiten. 29 Euro

Aber Robert entschloss sich, nicht so manisch in der inneren Parallelwelt zu verharren wie sein Bruder. Er lernte irgendwie, in zwei Welten zu leben, der inneren, die seine Zeichnungen widerspiegeln, und einer wirklichen Wirklichkeit, in der es vor allem Frauen, aber auch Aufträge und Mietzahlungen, echte Natur und echte Geschichte gibt. Wenn man Robert Crumb verstehen will, muss man sich auf ein Wandern zwischen den Welten einlassen, der Welt der Obsessionen, Neurosen und Fetische, der Alpträume und Wahnvorstellungen, und der Welt der Straßen, der Politik, der Beziehungen und der Alltäglichkeit. Was man sich indes zu dieser Zeit kaum vorstellen kann: Robert Crumb als glücklichen Menschen.

„Nach dem Highschool-Abschluss gammelte ich ein Jahr lang rum und machte genau null, ich habe nur sehr viel gezeichnet“, erzählte er später. Aber das Leben verlangte nach einem Job. In Cleveland arbeitete er als Illustrator von Grußkarten. Und, wieder eine Legende, ein einziger LSD-Trip reichte aus, um ihn alles stehen und liegen zu lassen und nach San Francisco zu reisen, auch ohne Blumen im Haar, und dort Teil des Hippie-Underground zu werden.

Dabei half, dass Harvey Kurtzman in seinem Magazin „Help!“ die ersten Fritz-the-Cat-Episoden abdruckte, und was unter der Rubrik public gallery in dieser Zeitschrift erschien, wurde dann in Cavalier übernommen oder fortgesetzt, genau weiß das nicht einmal Robert Crumb selbst. Jedenfalls hätte er, das Crumbsche Un/Glück mal wieder, als Redakteur bei „Help!“ anfangen sollen, genau an dem Tag, an dem die Eigentümer die Einstellung des Magazins bekannt gaben. Später wusste er, dass er zu so was wie einem Redakteur nicht das geringste Talent hatte. Robert Crumb kann nur zeichnen. Und Banjospielen, das kann er auch. Zum Überleben halfen nun Zeichnungen für die Topps-Kaugummi-Sammelkarten. Zuvor zeichnete er die Kataloge für die Kaugummivertreter: Kaffeemaschinen, Mixer, Toaster. Es blieb, vielleicht, eine Vorliebe für beseelte Dinge. Auch hier half eine weitere Niederlage, eine Idee für eine reine Nostalgiepublikation mit Dingen aus guten alten Tagen, für die Crumb eine enorme Recherche- und Zeichenleistung erbracht hatte und aus der dann doch nichts wurde. Beim Grußkartenhersteller American Greetings hätte man eine Drehtür für Robert Crumb einbauen müssen, so oft wurde er gefeuert, verließ die Firma und kehrte reumütig aus Geldmangel zurück.

Robert Crumb (Autor und Zeichner): „Mister Nostalgia“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Harry Rowohlt und Heinrich Anders. Reprodukt, Berlin 2013. 96 Seiten. 29 Euro

Die Schaffung von Crumbland

Die Innen- und die Außenwelt, Alltag und Alptraum: Crumb beobachtet beides mit derselben Genauigkeit. Und mit einer Nähe, die manchmal peinigend ist. Das Abseitige und Abgründige wird mit derselben Intensität behandelt wie das scheinbar Normale, und beide liegen immer sehr nahe beieinander. Seine Figuren verhalten sich oft wie echte Arschlöcher. Natürlich Fritz, der egomane Kater, aber auch Mr. Natural, ein Guru, der den größten Blödsinn von sich gibt, wahlweise daoistische Weisheiten, Scharlatanerie und albernes Geschwätz, und natürlich schreckt er auch vor einer zwei Seiten langen Beschimpfung seiner Leser nicht zurück. Eine Figur, die übrigens, ähnlich wie Fritz the Cat, ein fatales Eigenleben entwickelte: Es gibt Mr.-Natural-Schnapsgläser, -Briefbeschwerer und auch -Haschpfeifen. Crumb konnte nichts dagegen tun. Der Zorn, den er auf die Verwerter seiner Ideen entwickelte, zeigte sich in seinen Comic-Charakteren. Die vielen LSD-Trips machten Crumb wahrlich auch nicht zu einem glücklicheren Menschen, sondern versorgten ihn noch zusätzlich mit traumatischen Bildern.

Ein Wesenszug im Crumbschen Schaffen ist eine besondere Art von Sehnsucht nach den USA in der Zeit vor dem Krieg. Aus diesem Geist heraus wandelt er in den Siebzigerjahren die Comicgeschichten um in eine Form der biografischen Literatur. In seinen Geschichten beschreibt er immer wieder sich selbst, seine Reisen, seine Beziehungen, seine Erfahrungen, später dann auch Seelenverwandte, Philip K. Dick oder Franz Kafka. Oder Gott bei der Erschaffung der Welt, Genesis (Fans schüttelten den Kopf: Crumb? Die Bibel?).

Es geht, ganz allgemein, um die Schaffung von Crumbland, dem Land der Neurosen und Obsessionen, die sich aber nicht in einem fernen oder künstlichen Paralleluniversum entfalten, sondern direkt im Alltäglichen. Robert Crumbs radikale Ich-Sucht geht einher mit einem ebenso radikalen Verzicht auf Eitelkeit und Stilisierung. Crumb selbst ist die crumbschste aller seiner Figuren. Und sein Werk eine einzige mäandernde magische Autobiografie.

Dieser Text erschien zuerst am 30.08.2018 auf: zeit.de

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien im Bertz+Fischer Verlag Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur.

Seite aus „Mein Ärger mit den Frauen“ (Reprodukt)