Das Gründungsdokument des Ghibli-Studios – „Nausicaä“ von Hayao Miyazaki

Die Zeichentrickfilme des Ghibli-Studios werden als Gegenentwürfe zur Ideologieproduktion à la Disney gelesen, als fantastische Zeichenwelten, die den Blick auf die Wirklichkeit nicht verstellen. Die Grundlage für den Erfolg von Ghibli legte jedoch nicht ein Film, sondern ein Manga von Ghibli-Gründer Hayao Miyazaki. „Nausicaä im Tal der Winde“ gibt es nun als Neuauflage.

Wie kann man junge Menschen mit Zuversicht und Realitätssinn auf das Leben vorbereiten, ohne ihnen dabei eine heile Welt vorzugaukeln? Mit seinen Zeichentrickfilmen „Prinzessin Mononoke“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“ ist Ghbili-Gründer Hayao Miyazaki dieser Balanceakt eindrucksvoll gelungen. Lange vor diesen Welterfolgen begann Miyazaki 1982 die Manga-Serie „Nausicaä“.

Die Geschichte von „Nausicaä“ beginnt nach dem Ende der Zivilisation. Die Menschen haben ihren Planeten mit Vernichtungskriegen überzogen, allen kulturellen Fortschritt zerstört und die Natur vergiftet. Ein gewaltiger Urwald, das Meer der Fäulnis genannt und bewohnt von riesigen Insekten, breitet sich über den Erdball aus. Geheimnisvolle Pilze vergiften die Luft mit ihren Sporen – Sporen, die wie Schnee eine wunderschöne, aber todbringende Landschaft bedecken. Nur mit Schutzmasken trauen sich wenige Menschen in die Natur, eine von ihnen ist Prinzessin Nausicaä. Sie schwärmt und blickt zugleich in die Abgründe ihrer Welt: „Wie schön es hier ist. Aber ohne Maske würden meine Lungen in nur fünf Minuten zerfallen.“

Nausicaä heißt so wie die berühmte Tochter des Alkinoos aus der Odyssee. Und wie die Prinzessin des Homerischen Mythos wohnt Nausicaä in einer Zwischenwelt, im Tal der Winde, deren günstige Strömungen alle Giftwolken fortwehen. Aber auch dieses Tal ist bedroht. Bedroht durch die Machtkämpfe kriegerischer Stämme, die mit ihren fliegenden Kampfschiffen den Krieg auch ins Tal der Winde tragen.

Anders als die Phäaken-Tochter aus der Odyssee muss Nausicaä die schützende Heimat verlassen. Sie muss in den Krieg ziehen, wo sie doch eigentlich das Geheimnis des todbringenden Urwaldes ergründen und herausbekommen möchte, warum die Natur Giftwolken in die Atmosphäre bläst. Nausicaäs mystische Gabe, mit der Natur zu kommunizieren, lüftet schließlich das Geheimnis: Die Giftwolken des Waldes sind nur ein Nebenprodukt. Eigentlich reinigt der Wald die Natur von den Giften, die die Menschen beim Krieg-Führen über die Erde verteilt haben.

Die ökologische Fabel und fantastische Heldenreise der Prinzessin Nausicaä ist so etwas wie das Gründungsdokument des berühmten japanischen Ghibli-Studios. Fast 20 Jahren vor dem Welterfolg von „Prinzessin Mononoke“ sah es jedoch überhaupt nicht gut aus für die Karriere von Ghibli-Gründer Miyazaki. Sein erster Spielfilm „Das Schloss des Cagliostro“ war gefloppt. Nicht als Zeichentrickfilm, sondern auf Papier, als Manga veröffentlichte er daher seine „Nausicaä“. Miyzakis Zeichnungen machten großen Eindruck, und er konnte „Nausicaä“ schließlich auch als Film herausbringen – der Auftakt der Erfolgsgeschichte von Ghibli.

Die Neuauflage der „Nausicaä“-Bände zeigt das große Zeichentalent von Hayao Miyazaki. Im Vergleich zu der träumerischen Stimmung des Films ist der Manga rauer, härter und schneller, aber auch grafisch viel anspruchsvoller. Eigenwillige Perspektiv- und Rhythmuswechsel fordern den Leserblick – durch diese Zeichen-Welten muss man einen eigenen Weg finden.

Von einer Menschheit zu erzählen, die sich im Herrschen und Krieg-Führen ergeht, anstatt sich um den Planeten zu kümmern, den sie beständig vergiftet, entsprach 1982 dem erwachenden ökologischen Bewusstsein in den damaligen Industrienationen. Hayao Miyazaki gab seiner ökologischen Fabel allerdings einen besonderen Dreh. Er zeigt nicht nur einen unheimlich verheerten Planeten und eine innerlich zerrissene Heldin. Sein Manga hält eine kunstvolle Balance, zwischen der ökologischen Katastrophe, die er vorhersah, und der utopischen Hoffnung, dass die Menschen doch noch ein anderes Verhältnis zu ihrem Planeten entwickeln können als das der rücksichtslosen Ausbeutung. So naiv die großen Augen der Prinzessin Nausicaä einem erscheinen mögen, ihre Geschichte ist realitätsgewandt, utopisch und hochpolitisch – all das, was auch die Zeichentrickfilme von Miyazaki denen von Disney bisher immer voraushatten.

In diesem Frühjahr wurde der Zeichenstil von Miyazaki zum Social-Media-Hype. Vom Treffen von Wolodymyr Selenskyj mit Donald Trump im Weißen Haus bis hin zu banalsten Urlaubsfotos – KI-generierte Bilder, die den Zeichenstil der Ghibli-Produktionen imitierten, überschwemmten das Netz. Bereits 2016 hatte sich Miyazaki selbst gegen die Nutzung von KI-Zeichentools ausgesprochen: „Wenn ihr solche gruseligen Dinge machen wollt, dann tut das. Aber ich möchte nicht mit dieser Technologie arbeiten. Für mich ist das eine Beleidigung für das Leben selbst.“ Dieses Statement zeigt, wie wenig der KI-Ghibli-Instagram-Trend den Meister des Zeichentricks verstanden hat. Die vielschichtige Melancholie und die schonungslose zeichnerische Analyse menschlicher Gewaltkulturen verschwinden, wenn die KI Miyazakis Stil zur leeren Hülle macht. Zum Glück bietet die Neuauflage von „Nausicaä“ die Chance, die große Kunst von Miyazaki jetzt wieder auf Papier zu bewundern.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 08.08.2025 auf: SWR Kultur

Hayao Miyazaki: Nausicaä aus dem Tal der Winde. Doppelband-Edition 1 • Aus dem Japanischen von Jürgen Seebeck und Junko Iwamoto • Carlsen, Hamburg 2025 • Hardcover • 272 Seiten • 20,00 Euro

Max Bauer ist Redakteur in der ARD-Rechtsredaktion und berichtet u.a. vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Außerdem rezensiert er Comics für SWR Kultur.