Es geht ums Turnen, um Körperbilder und darum, dass man sich in seiner Pubertät noch mal ganz neu finden muss. Lias Sinram zeichnet in seinem autofiktionalen Comicdebüt „Leib“ eine berührende Coming-of-Age Geschichte.
Lisa ist 12 Jahre alt und bekommt zum Geburtstag einen Turnanzug mit Flammendekor, der sie als Teil ihres Vereins ausweist. Sie ist stolz, endlich einen eigenen zu haben. Beim nächsten Turnier muss sie nicht mehr im geliehenen antreten. Viele Seiten später wird sie beschreiben, wie dieser Turnanzug immer wieder für Demütigungen sorgt, weil der bei den Übungen in die Poritze rutscht und die Scham entblößt.
Es ist eine Geschichte der Umbrüche und Neubewertungen, die dieser Comic erzählt. Da ist zum Beispiel Lena, ihre „beste Freundin für immer“, mit der sie seit sieben Jahren alles zusammen macht, auch im Turnverein, und die plötzlich hochhakige Schuhe trägt und ihr Referat lieber mit einem anderen Mädchen machen will. Mit dem Comic „Leib“ erzählt Lias Sinram eine typische Coming-of-Age-Geschichte – und noch viel mehr.
„Leib“ ist auch eine Auseinandersetzung mit der Härte des Turnsports. Es ist eine autofiktionale Geschichte: Lias Sinram zeigt, mit wie viel Disziplin der Körper gedehnt wird, immer ein Stückchen weiter, an die Schmerzgrenze heran und darüber hinaus. Wie eine winzige Ungenauigkeit zu Stürzen führt, zum Beispiel vom Barren. Und wie viel Überwindung es kostet – die von der Trainerin ganz selbstverständlich verlangt wird –, die Übung sofort zu wiederholen, damit die Angst nicht die Oberhand gewinnt. Die Bewegungen der Turnübungen werden in den Zeichnungen in prägnante Einzelbilder zerlegt, die einen ganz eigenen Rhythmus entwickeln. Ein Rhythmus, der Sicherheit vermittelt. Lias Sinram zeichnet mit einfachen schwarzen Strichen und schattiert mit Rasterfolie in unterschiedlichen Graustufen. Das wirkt plakativ, dynamisch und berührend zugleich. Weil Lias Sinram mit den einfachen Linien präzise die Spannung der Körper ausdrückt und die Gefühlslagen in die Gesichter zeichnet.

Der Härte des Turnsports setzt der Comic immer wieder eine Leichtigkeit des Alltags entgegen und zeichnet dabei eine herrliche Millieustudie von Berlin-Prenzlauer Berg, in dem die Graffiti-bemalten Hinterhäuser entlang des S-Bahnrings oder an der Schönfließer Brücke ebenso treffend porträtiert werden wie der Dönerstand am S-Bahnhof Schönhauser Alle. Dort kaufen die beiden Mädchen sich gerne einen Döner, den sie zur Hälfte unterschiedlich belegen lassen und teilen. Der geteilte Döner zeigt, wie die Mädchen trotz aller Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Basis haben.
„Leib“ ist ein urbaner Heimatcomic, der immer wieder die Frage nach Zugehörigkeit stellt. Die Gewohnheiten und Routinen, die ein vertrautes Gefühl und Vertrauen vermitteln, zeigt Lias Sinram sowohl in der Freundschaft zu Lena, als auch beim Turnen. Wenn eine Bewegung so lange eingeübt wird, dass der Körper diese ausführt, ohne, dass der Kopf darüber nachdenken muss. Doch irgendwann tragen die Routinen nicht mehr. Lisa zweifelt immer mehr, ob der Turnverein und ihre Rolle der richtige Ort für sie sind. Schaut sie „Germanys next Topmodel“, weil sie die Show mag, oder damit sie sich am nächsten Tag mit den anderen darüber unterhalten kann? Rasiert sie ihren Körper, weil sie das möchte oder weil es eine Konvention ist? Und wäre sie mit all den Mädchen überhaupt befreundet, wenn sie nicht mit ihnen zusammen turnt? Als sie dann auch noch bei einer Recherche für ein Referat die nationalistische Seite der Turnerbewegung entdeckt, wird ihr immer klarer, dass sie nicht weiter alles als Normalität hinnimmt, was ihr bislang Routine war.
Mit dem Comic „Leib“ hat Lias Sinram einen leisen und präzise beobachteten Comic gezeichnet, der Brüche und die Suche nach Identität während der Pubertät bis zur letzten Seite spannend erzählt. Dass es dabei keine großen Dramen gibt, ist eine besondere Qualität dieses Comics.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.12.2025 auf: radio3 rbb
Lias Sinram: Leib • Avant-Verlag, Berlin 2025 • Hardcover • 224 Seiten • 25,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

