Lebenslange Erinnerungen

Was bedeutet es, als Minderheit in einem fremden Land aufzuwachsen? Wie wirkt sich Flucht und Vertreibung auf das Leben der Menschen aus – und zwar auch auf das Leben der Kinder- und Enkelgeneration? Der österreichische Comiczeichner Vinz Schwarzbauer hat zur Fluchtgeschichte seiner Familie nun eine Graphic Novel gezeichnet, die grafisch wie inhaltlich herausragt.

Die Familie von Vinz Schwarzbauer stammt aus dem ungarischen Györ, einer Stadt an der Donau, die zwischen Budapest und Wien liegt. Während des ungarischen Volksaufstands 1956 ist die Familie vor der kommunistischen Sowjetarmee geflohen, die den Aufstand niedergeschlagen hat. Ein Teil der Familie ist in Wien geblieben, der andere ist nach Kanada ausgewandert. Von diesem kanadischen Teil der Familie hat Vinz Schwarzbauer zufällig erfahren, als er schon erwachsen war. Für ihn war das der Anlass, Nachforschungen anzustellen und sich damit auch den eigenen Wurzeln zu widmen, denn Schwarzbauer fragt sich, was ihn mit dem kanadischen Teil seiner Familie verbindet, ob es bei all den unterschiedlichen Erfahrungen so etwas wie eine Familienidentität gibt.

Vinz Schwarzbauer hat seinen Onkel George und seine Tante Maria in Kanada ausfindig gemacht, ist dort hingereist und zeichnet auf, was ihm die beiden erzählen. Das ist auch deshalb stark, weil er zeigt, wie unterschiedlich die Erinnerungen der Geschwister George und Maria sind. So hat George ihre Mutter als sehr liebevoll, Maria hingegen als sehr streng in Erinnerung. Die Flucht aus Ungarn beschreibt George als Strapaze mit endlosen Märschen im Grenzgebiet, in dem auf Flüchtlinge geschossen wird. Wie Grenzsoldaten den Flüchtlingen ihre Wertgegenstände abpressen, damit sie weitergehen dürfen. Seine Schwester Maria erinnert sich dagegen vor allem daran, dass sie viel vom Vater getragen wurde, weil sie zum Laufen zu klein war.

Es geht Schwarzbauer also nicht darum, herauszufinden, was genau passiert ist, sondern wie all die Erfahrungen die Erinnerungen, und damit das Bild vom eigenen Leben, geprägt haben. Und tatsächlich wird George, der die Flucht als so aufreibend und voller Gefahren erinnert, sein Leben lang unterwegs sein: auf Montage in ganz Kanada arbeiten – in Goldminen genauso wie in Uranminen – und damit schließlich auch seine Ehe ruinieren. Gleichzeitig konnte seine Schwester in Kanada viel stärker Wurzeln schlagen.

Vinz Schwarzbauer zeichnet den Comic in feinen, detailreichen Schwarzweiß-Zeichnungen. Immer dann, wenn er seine Reise nach Kanada dokumentiert, hat er mit Tusche gemalt. Besonders stark sind die Porträts seines Onkels und seiner Tante. Wie sie zu Hause am Tisch sitzen, die Hände kneten – und der Tischläufer ist so geblümt, als stammte er aus Ungarn. Sehr gut fängt Schwarzbauer auch die Atmosphären der unterschiedlichen Länder ein: Kanada, mit seinen nüchternen Zweckbauten und den unendlichen Wäldern, in denen George einmal auf Bärenjagd geht. Dagegen das dicht besiedelte Ungarn: In den engen Altstädten lehnt ein reich verziertes Haus ans andere. Und sogar die Möbel der einfachen Bauernhäuser sind mit Blumenmustern bemalt.

Die Erinnerungen von George und Maria hat Schwarzbauer mit Rasterfolie unterlegt, wie man sie von alten Zeitungsfotos kennt. Das wirkt distanzierter als die Tuschemalerei, in der er seine eigenen Erfahrungen aufzeichnet. Der Titel „Mäander“ ist doppeldeutig: Einerseits verlaufen die Leben von George und Maria nicht gradlinig, sondern mäandern zwischen Hindernissen und guten Gelegenheiten. Anderseits nähert sich Vinz Schwarzbauer auch seiner Familiengeschichte nicht gradlinig. Gerade durch diese Umwege wird deutlich, wie sehr Flucht prägt und wie Menschen sich eine fremde Umwelt erobern.

Da ist zum Beispiel der Vater von George, der mit seinem Enkel Steven angeln geht, weil er das früher in Ungarn gemacht hat. Als Schwarzbauer am Ende diesen Steven, seinen Cousin, trifft, nimmt die Graphic Novel noch einmal an Fahrt auf. Denn Stevens Mutter war eine Indigene, die, wie so viele in ihrer Generation, ihre indigene Kultur abgelegt hat, weil die als rückständig galt. Steven hat Betriebswirtschaft studiert, bei einer Bank gearbeitet. Und dann hat er sich dem Stamm seiner Mutter angenähert, ist in den Stammesrat gewählt worden und setzt sich nun für die Belange der indigenen Bevölkerung ein.

Ein Leben, das ganz anders ist, als das von Vinz Schwarzbauer. Und trotzdem ist auch Steven auf der Suche nach seinen Wurzeln. Und auch er träumte davon, seine Verwandten in Europa kennenzulernen. Vinz Schwarzbauer beschreibt in seiner Graphic Novel „Mäander“ sehr präzise und konkret die Erfahrungen seiner Familie und arbeitet so universelle Muster heraus, die für Menschen unterschiedlicher Kulturen gelten.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.05.2023 auf: kulturradio rbb

Vinz Schwarzbauer: Mäander • Edition Moderne, Zürich 2023 • 312 Seiten • Softcover • 29,00 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.