Queeres Medium – „Abfackeln“

Die Suche nach Identität in einer brennenden Welt – Nino Bullings Comic „Abfackeln“ wurde von der New York Times als eine der acht „Best Graphic Novels of 2024“ ausgezeichnet.

Es sei wichtig, den Comic als „queeres Medium zu denken“, sagte Nino Bulling in einem Interview im Kontext seiner Beteiligung an der Documenta fifteen, „und das bedeutet nicht nur, queere Geschichten zu erzählen, sondern das ‚Wie und mit Wem’ der Arbeit und ihrer Verwertungskreisläufe mitzudenken“. Gerade das Medium Comic, so ließe sich ergänzen, ist mit seiner ungleichzeitigen Gegenwart von Text und Bild, dem Prozesshaften des sequenziellen Erzählens und den Leerstellen, die sich aus den Panelzwischenräumen ergeben, prädestiniert für die Offenheit, das nicht Festgelegte queerer Theorie und vor allem queerer Praxis. Mit „Abfackeln“ hat Bulling dieses Potential des Comics in vielerlei Hinsicht genutzt. Unterschiedliche Papiersorten, ein offener Buchrücken, der die Fadenbindung offenlegt, ein unbeschichteter, offener Karton als Frontcover, auf dem schnell Spuren und Abnutzungen sichtbar werden – schon die Aufmachung des Buches trägt das Prozesshafte, nicht Abgeschlossene zur Schau. Die Zeichnungen wiederum wirken locker aufs Papier geworfen, skizzenhaft und flüchtig, sie geben der Geschichte um Ingken und Lily, die in einer offenen Beziehung leben, viel Raum, und dennoch verspürt man beim Lesen keinen Mangel.

„Ich glaube irgendwie nicht, dass ich eine Frau bin“, sagt Ingken zu Beginn des Comics, und die Suche nach diesem „irgendwie“ bestimmt die weitere Handlung. Ihr Umfeld begegnet dieser Suche mit großer Offenheit und Support. „Du musst erst mal gar nichts tun oder wissen. Mach alles in deinem eigenen Tempo“, sagt ihr Lily, die selbst eine Transition vollzogen hat, in einem Gespräch. Doch für Ingken ist die Suche noch lange nicht abgeschlossen, die Erwartung an sich selbst, sich auf eine Identität festzulegen, das Dazwischen hinter sich zu lassen, entfremdet sie von sich und entfernt sie von Lily. Das Abfackeln, alles niederzubrennen, bleibt fürs erste der Natur überlassen; Feuer in Australien als Folge des Klimawandels spielen ebenso eine Nebenrolle im Comic wie brennendes Gas einer Raffinerie. Ungezähmte Natur und der Raubbau an ihren Ressourcen, die vermeintliche „Natürlichkeit“ von Körpern und Identität und das Überwinden von Körpergrenzen: Die Themen, die Nino Bulling anreißt, hängen alle zusammen. Ebenso wichtig ist es ihm, die politische Dimension seines queeren Ansatzes, die Umstände und Bedingungen der Arbeit und ihrer Verwertungskreisläufe mitzudenken: Teil des Documenta-Projekts, in dem Themen und Charaktere aus ­Abfackeln auf großen Seidenstoffbahnen weiter­erzählt werden, ist die Gründung einer Gewerkschaft für Comic-Zeichner*innen. So weist der ohnehin schon beeindruckende Comic weit über sich hinaus und entwickelt ein Eigen­leben in der realen Welt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Strapazin #148

Nino Bulling: Abfackeln • Edition Moderne, Zürich 2022 • 160 Seiten • Softcover • 24 Euro

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.