Der Nabel der Welt – „Joe’s Bar“

Die Welt von „Joe’s Bar“ ist eine Welt des Noir im Sinne Derek Raymonds. Sie steht mitten in New York City und ist doch die Welthauptstadt. Nun ist der Klassiker von José Muñoz und Carlos Sampayo als Gesamtausgabe erschienen.

Man sollte die Geschichten um „Joe’s Bar“, die das argentinische Duo José Muñoz (Bild) und Carlos Sampayo (Text) 1981ff und, als eine Art Coda, 2000/2001 erzählen, am besten im Zusammenhang mit ihrem Zyklus „Alack Sinner“ (seit 1979) betrachten. Die Figur des Alack Sinner, ein Privatdetektiv in New York, der sich in einem virtuosen, grafischen Irrgarten bewegt und dabei oft enigmatische „Fälle“ zu bearbeiten hat, war ein Frontalangriff auf die wohlgeordnete Welt des Privatdetektiv-Narrativs, sowohl auf der inhaltlichen als auch der Bildebene.

Reste von linearem Erzählen entstehen nur durch die Figur – Plotkonventionen des Genres werden höchstens angerissen, dann in viele Partikel zerstäubt. Die Bilder heischen autoritativ nach Gleichberechtigung, sie stehen in einem extrem dialogischen Verhältnis zum Erzählten, relativieren es, oft genug dementieren sie es sogar. In „Joe’s Bar“ gehen die beiden Argentinier noch weiter. Zentral ist nicht mehr eine Person, sondern eben ein Ort – eine Bar, irgendwo in New York City, ein nachgerade mythischer Ort, an dem sich alle möglichen Menschen zu allen möglichen Zeiten treffen. Ein Babel aus Sprachen, Gesprächsfetzen, Subtexten.

Storys deuten sich an, mäandern, schlagen rätselhafte Richtungen ein, enden mit oder ohne Pointe und diffundieren. Was nicht heißt, dass sie kontextlos zu verstehen wären. Immer wieder mischt sich die große Politik ein, die südamerikanische Tragödie, die US-amerikanische Politik der Zeit (selbst Ronald Reagan schaut in Joe’s Bar vorbei), Rassismus, organisierte Kriminalität, Drogen, Migration, alles zusammen bietet sehr genaue Subtexte. An diesen Stellen sind Muñoz/Sampayo explizit politische Künstler.

Joe’s Bar ist, wie das Dublin von James Joyce im „Ulysses“, die Welthauptstadt, zusammengesetzt aus dem Sehnsuchtsort New York City, dem berühmten „Schmelztiegel“, und der kreativen Energie, die Joe’s Bar erschafft. (Wen wundert’s, dass José Muñoz mit einem anderen Mythomanen New Yorks, mit Jerome Charyn zwei Projekte realisiert hat: „Le croc de serpent“ und „Panna Maria“, die eine deutsche Fassung dringend nötig hätten.) Inmitten dem Gewusel aus Stimmen, Bildern, Anspielungen und Verweisen (ein Paradies für Semiotiker mit dem Ehrgeiz, möglichst viel zu entschlüsseln) scheinen einzelne Storys durch: Autobiografisches, wie die von Pepe, dem Tellerwäscher der Bar, der eigentlich ein argentinischer Architekt ist, dem es nicht gelingt, to make it in New York, oder wie die von Ella, einer Fotografin, die vergeblich versucht, die BesucherInnen von Joe’s Bar systematisch zu porträtieren. „Der sympathische Mister Wilcox“ hingegen ist ein Killer, der sich mit seinem Opfer anfreundet und es schrecklich nett findet, aber nun mal einen Job zu erledigen hat.

Alle diese Story-Fragmente (hin und wieder tritt auch Alack Sinner auf) atmen deutlich den Geist des Néopolar eines Jean-Patrick Manchette, zeigen Bezüge zur eisigen Welt eines Dashiell Hammett, zum Wahnwitz eines Chester Himes, den Filmen von Samuel Fuller, Martin Scorcese oder Jean-Luc Godard und zum Jazz (nicht umsonst haben beide Künstler sich zusammen mit Billie Holiday beschäftigt, Sampayo in Kooperation mit Igort mit Fats Waller, und hier gibt es eine Episode, in der Django Reinhardt und Oscar Alemán im Mittelpunkt stehen). Die Welt von Joe’s Bar ist deutlich eine Welt des Noir, noir hier begriffen, in den Worten von Derek Raymond, als „subterranean stream of consciousness“, der, obwohl schwer greifbar, dennoch überall vorhanden ist.

Die Dominante von „Joe’s Bar“ allerdings sind die Bilder. Die unverkennbaren José-Muñoz-Bilder: schwarz-weiß, flächig, verzerrt, multiperspektivisch in einem Panel, detailrealistisch, dann wieder karikatur- bis fratzenhaft. Ein grandioses Amalgam, das, obwohl aus disparatesten Bildwelten zusammengesetzt, eine originelle einzigartige Signatur bildet. Die Bezüge sind vielfältig und intentional offengelegt – das geht von Frans Masereel über George Grosz und Otto Dix zum Black-Dada-Surrealism, mit Einsprengseln von Alberto Breccia, eher Verneigung als Zitat. Ein wunderbares Beispiel künstlerischer Osmose, während der Einflüsse, Geschichte und Konzepte wie von einem Schwamm aufgesogen und in neuer, komprimierter Form wieder freigesetzt werden. Diese Ästhetik ist das Dach, unter dem all diese spannenden und verwirrenden, gar verstörenden Prozesse stattfinden können. Sie ist der Garant von Muñoz/Sampayos Kunst.

Hatte ich oben gesagt, dass Joe’s Bar in New York City so eine Art Nabel der Welt sei, wären Muñoz/Sampayo nicht Muñoz/Sampayo, wenn sie auch dieses Sinn-Angebot nicht konterkarieren würden. In fünf neuen Episoden (noch nie auf Deutsch erschienen, wenn ich mich nicht arg irre) erweitern sie den Geist von Joe’s Bar: Er ist plötzlich überall auf der Welt möglich und sichtbar: In Buenos Aires, in Barcelona, in Paris und auf einem Ozeandampfer der Südamerika-Linie. Joe’s Bar als Idee eines Raums für globalen Noir ist topografisch nicht zu begrenzen. Die letzte Episode allerdings spielt am 11. September 2001. Das Ende eines Zeitalters, und möglichweise auch das Ende von romantischen Mythen, die man so nicht weiterspinnen kann, ohne ideologisch zu werden. Das wäre die pessimistische Sichtweise. Die Disruption der Weltordnung, die mit 9/11 ihren Anfang nahm, entfesselte die Kräfte des marktorientierten Neoliberalismus, der auch die Idee eines Utopia des Noir marginalisiert hat. Aber, wie wir zum Beispiel an diesem Prachtband sehen, klimmt der Funke doch noch leise vor sich hin. Platte, eindeutige, autoritäre Narrative mögen im Moment die Lufthoheit haben, aber … na ja, das wäre eben die sehr optimistische Sichtweise.

Und abseits aller Exegese: Muñoz’/Sampayos „Joe’s Bar“ gehört in die Reihe der großen Graphic Novels, wie die Werke von Alberto Breccia, Hugo Pratt, Tardi, Jacque de Loustal et al. Und schon allein deswegen ist diese Gesamtausgabe eine verlegerische Großtat. Und das reine Vergnügen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.11.2025 auf: CulturMag

Carlos Sampayo (Autor), José Muñoz (Zeichner): Joe’s Bar • Aus dem Spanischen von Myriam Alfano • Avant-Verlag, Berlin 2025 • 336 Seiten • Hardcover • 40,00 Euro

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.