Jiro Taniguchi – Träume vom Leben

Am 11. Februar starb mit Jiro Taniguchi ein Manga-Autor und -Zeichner, dessen Werk markante Spuren hinterlassen hat. Angefangen von den frühen Genre-Arbeiten bis zum kontemplativen, oft in Vignetten erzählten Spätwerk, Taniguchi war ein Meister des Mediums, wie es nicht viele gab. In Europa wurde er erst seit Mitte der 1990er publiziert, aber seitdem hat er auch hier viele begeisterte Leser gefunden. Wir möchten an dieser Stelle eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl seiner Bücher vorstellen, als Anreiz für all jene, die sich diesem großen Mangaka nähern möchten.

 

spazierende-mann-cvrDER SPAZIERENDE MANN (1992)

Jiro Taniguchis Flaneur in „Der spazierende Mann“ ist gewissermaßen ein Träumer. Aber kein Utopist: Seine Beobachtungen geben den Takt seiner Schritte vor und leiten die Bewegung; nichts von alldem, was er sieht, und keiner der Menschen, denen er begegnet, wird in einen ideologischen Wahrnehmungsapparat gedrängt. Gewiss ist er ein Verweigerer, reagiert er doch mit Kontemplation, wo das Gros seiner Mitmenschen von Zielen und Anforderungen regiert wird.

Der namenlose Flaneur in „Der spazierende Mann“ lässt sich absichtslos treiben und nimmt uns mit von der Welt, die sich unmittelbar in seinem Viertel abspielt, in Erstaunen versetzt zu werden. Indem er hinschaut. Er ist keine runde Figur, hat keine dem Plot unterworfene Biografie und muss keine Aufgabe im Dreiakt-Korsett bewältigen. Mit solcherlei Werkzeug entfernen wir uns bloß von ihm.

Der namenlose Flaneur ohne Ziel hat eine Frau und scheint mit ihr neu in ein ruhiges Vorstadtviertel gezogen zu sein, das er nun Tag für Tag erkundet. Das muss genügen. Intimität erwächst aus seinen Blicken, die zu unseren werden, und dem Respekt, den er allem – den Menschen, den Tieren, der Natur, den Gegenständen – zollt: Nichts wird aus seiner Umgebung entrissen, auch nicht das lädierte Vogelhäuschen mit einem verängstigten Bewohner darin, das, so verrät es die Kapitelüberschrift, nach einem Taifun auf dem Bürgersteig liegt: Er nimmt es zur Reparatur mit nach Hause und hängt es dann an derselben Stelle wieder in den Baum. Der Vogel wird es schon bemerken.

Der Mann lächelt, staunt und forscht ohne Unterlass, und wenn er doch mal widerspenstig wird, sich etwa einen unausgesprochenen Spazierwettlauf mit einem älteren Mann liefert oder über den Zaun des geschlossenen Badehauses klettert, dann nicht aus Ehrgeiz, sondern weiser Gewissheit, dass Schönheit und Glück manchmal auch mithilfe eines kleinen Tritts aufs Podest befördert werden müssen.

Die 18 Kurzgeschichten, ursprünglich 1992 im Magazin Morning veröffentlicht, waren der Grundstein für Jiro Taniguchis internationalen Erfolg, als sie 1995 als Buch in Frankreich erschienen. Mit ihm betrat einer der womöglich unbeirrbarsten Melancholiker die Comicbühne, der in seinem gewaltigen Werk so einmalig und bedacht die Verzahnung von Glück und Grauen des Lebens erforscht hat, dass für Verbitterung nicht ein Pinselstrich übrigblieb. (Sven Jachmann)

Jiro Taniguchi: Der spazierende Mann. Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand. Carlsen, Hamburg 2009. 170 Seiten. € 14,–

 

Ikarus_cvrIKARUS (1997)

Eigentlich hätte „Ikarus“ ein Werk von wahrlich epischem Ausmaß werden sollen. Die nun vorhandenen knapp 300 Seiten sind nichts gegen die 10.000, die es sein sollten. Die Geschichte machte dabei eine enorme Transformation durch. Was Moebius plante und entwarf, ist nur noch entfernt mit dem verwandt, was Jiro Taniguchi daraus gemacht hat. Denn nach Entwicklung des Szenarios war es der Japaner, der sich der Umsetzung annahm und die Geschichte nach seinen eigenen Ideen formte.

Wie weit sie von Moebius entfernt ist, kann man im Bonusteil des Buches nachlesen, da der französische Autor dem Journalisten Numa Sadoul Rede und Antwort steht, wobei er genauer darauf eingeht, wie „Ikarus“ hätte sein sollen.

In der jetzigen Form ist es die Geschichte eines jungen Mannes, der direkt nach seiner Geburt fliegen kann, weswegen er in die Fänge einer Regierungseinrichtung gerät, die den Icaro untersucht, analysiert, studiert und für ihre eigenen Zwecke nutzen will. Doch Icaro wird flügge. Er verliebt sich – und er entwickelt einen eigenen Willen.

Die Kollaboration von Moebius und Taniguchi ist großartig. Man erkennt Einflüsse von Otomos „Akira“, der wiederum von Moebius‘ frühen Arbeiten inspiriert wurde. Generell ist der europäische Einschlag in der Geschichte spürbar. Im Ergebnis bedeutet dies die perfekte Synthese aus frankobelgischem und japanischem Comic. Ein lesenswerter Comic in einer edlen Veröffentlichung! (Peter Osteried)

Moebius, Jiro Taniguchi: Ikarus. Schreiber & Leser, Hamburg 2016. 312 Seiten, € 24,95

 

vertraute-fremde-cvrVERTRAUTE FREMDE (1998)

Vielleicht muss man selbst in der Mitte des Lebens stehen, um „Vertraute Fremde“ vollkommen zu erfassen. Oder besser: zu erfühlen. Ich möchte den (Mann) sehen, der über vierzig ist und nicht den Eindruck hat, hier hätte jemand den Nagel auf den Kopf getroffen.

Taniguchi beschreibt eine Midlife-Crisis auf eine Art und Weise, die unglaublich nah an dem ist, was einem so alles durch den Kopf geht. Und das ohne Geheule, ohne Sarkasmus, mit einem genialen Trick: sein Protagonist macht eine Zeitreise. Plötzlich ist er wieder der 14jährige, aber mit all dem Wissen und der Erfahrung des Mitvierzigers. Er sieht die Möglichkeit, sein Leben zu korrigieren, Fehler zu vermeiden, Chancen zu ergreifen. Er genießt diesen Zustand durchaus, aber mit einem entscheidenden Haken: sein Vater verließ nämlich just zu jener Zeit die Familie und verschwand spurlos. Aber warum? Und kann er es diesmal vielleicht verhindern?

Taniguchi braucht 400 großartige Seiten, um seinen Protagonisten eine wichtige Erkenntnis in den Kopf zu setzen. Egal, was man tut, man kann die Vergangenheit nicht wirklich ändern, nicht mal als Reisender in der Zeit. Das klingt banal — und ist es ja eigentlich auch –, aber auf dem Weg dahin fängt Taniguchi das irritierende Sehnsuchtsgefühl, noch mal von vorne anzufangen, unfassbar sinnlich ein. Und er ist keineswegs schnell dabei, Vorverurteilungen zu treffen. Ob man die Brücken abbricht oder weiterbeschreitet, das wird nicht weiter beurteilt. Das ist eine Menge wert und macht das Buch erst recht zum Meisterwerk. (Bernd Kronsbein)

Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde. Aus dem Japanischen von Claudia Peter. Carlsen, Hamburg 2007. 416 Seiten. € 19,90

 

Der KartographDER KARTOGRAPH (2011)

In diesem Werk greift Taniguchi die historische Figur des Ino Tadataka auf, der das Japan des 19. Jahrhunderts per Fußwanderung vermaß. In insgesamt fünfzehn Episoden durchwandert der Kartograph Edo und sein Umland und erkundet seine Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die immer wieder, wie in einem Bewusstseinsstrom, die Perspektive des Beobachteten einnehmen und aus dieser geschildert werden – wir erleben Japan so aus Sicht eines Vogels, eines Elefanten, einer Libelle und vieles mehr. Der umhergehende Tadataka trifft dabei Künstler, spielt mit Kindern, macht Erfindungen, trinkt zu viel Sake und bereist schließlich ganz Japan, um seine Arbeit zu vollenden. Diese eher spärliche Handlung bleibt Nebensache: Was Taniguchi hier ausbreitet, ist ein Panorama der Zeit, im Stil angelegt an die japanische Holzschnittkunst Ukiyo-e und ihren Meister Ando Hiroshige, in der Landschaften, historische Gegebenheiten, Theater und Vergnügungsviertel genauso gemischt erscheinen wie in dieser Graphic Novel. So entsteht ein malerischer Reigen von teilweise panoramahaften Eindrücken, bestimmt durch einen gemächlichen Erzählton. Langsam. Stet. Wie ein Spaziergang eben. (Holger Bachmann)

Jiro Taniguchi: Der Kartograph. Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand. Carlsen, Hamburg 2013. 220 Seiten. € 16,–

 

OD_9783551761040-tomoji_cover_A01.inddIHR NAME WAR TOMOJI (2013)

Bei dieser höchst individuellen Biografie Tomoji Uchidas, einer einflussreichen geistlichen Führerin Japans der 30er Jahre, suchte sich das Sujet den Autor: die Betreiber eines buddhistischen Tempels bei Tokyo, den Taniguchis Ehefrau fleißig besuchte, kamen mit der Bitte auf Taniguchi zu, für ihre Vierteljahresschrift doch einen Beitrag über die Tempel-Gründerin Tomoji zu liefern. Taniguchi stellte zur Bedingung, dass er keine platte Nacherzählung der in Japan sattsam bekannten Lebensgeschichte Tomojis liefern würde, sondern eine betont fiktive Biografie, die bewusst die Jugendzeit der späteren Geistlichen vor der buddhistischen Phase schildern sollte. Gemeinsam mit der Szenaristin Miwako Ogihara entstand somit ein eindrucksvolles Panorama des Japans Anfang des 20. Jahrhunderts, mit einer unbeugsamen jungen Frau im Mittelpunkt – was Taniguchi bislang nur einmal bei „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ so gehalten hatte.
Tomojis Lebensweg steht dabei typisch für die damalige Zeit: das karge, ärmliche Dasein beschreibt Taniguchi als archetypische Lebensweise der Epoche, die er in akribischer Detailfreude ausbreitet. Taniguchi arbeitet dabei mit Leitmotiven wie etwa historisch verbürgten Kinderliedern, panoramahaften Landschaftsbildern, konkret vermerkten Zeitabfolgen sowie dem zu Beginn angefertigten Familienfoto. Jede Episode beginnt in Farbe und läutet damit eine neue Epoche ein; ansonsten dominiert ein klarer, detailreicher Bleistift-Strich, der sich dem ruhigen Erzählfluss wunderbar unterordnet. Mit diesem sparsamen, fast schon minimalistischen Stil ging Taniguchi deutlich weg von seinen früheren Action-Mangas und lieferte wie in „Der Kartograph“ ein wundervolles, höchst persönliches Zeitbild eines längst vergangenen und für westliche Leser wenig bekannten Kapitels der japanischen Geschichte. Bedächtig, leise, eindrucksvoll. (Holger Bachmann)

Jiro Taniguchi: Ihr Name war Tomoji. Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand. Carlsen, Hamburg 2016. 190 Seiten. € 16,90

 

OD_9783551763198-waechter-louvre_cover_A01.inddDIE WÄCHTER DES LOUVRE (2014)

Ab und an veröffentlicht der Louvre gemeinsam mit dem Verlag Futuropolis Comics, die sich mit Inhalt und Geschichte des drittgrößten Museums der Welt befassen. Größen wie Enki Bilal, Eric Liberge oder Bernar Yslaire konnten für diese Projekte bereits gewonnen werden, bzw. ließen sich gerne dafür gewinnen. 2014 gesellte sich Jiro Taniguchi zu dieser illustren Künstler-Schar. Seine Geschichte ist die eines japanischen Mangaka, der von Fieber und Schüttelfrost geplagt trotzdem das Museum besucht und dort Tagträume durchlebt, in denen er den Wächtern des Louvre begegnet: den fleischgewordenen Kunstwerken des Museums und deren Künstler, von der Mona Lisa bis zu Vincent van Gogh. Wobei auch die Geschichte des Louvre selbst beleuchtet wird.

Taniguchis Stil, seine Geschichten, zeichnen sich v.a. in seinen späteren Arbeiten durch einen ruhigen, episodenhaften und beinahe lyrischen Erzählfluss aus. Diese unspektakuläre Art und Weise wird hier durch eine Präsentation im Großformat aufgebrochen. Die Architektur und die Kunst des Louvre entfalten so durch die großen Panels eine spektakuläre Wirkung. Die filigranen, in sanften Farben direkt kolorierten Bilder entfalten ihre ganze Pracht, ein Effekt, der bei dem üblichen Manga-Kleinformat nicht gelänge. Das Design des Bandes ist eine kulturelle Melange aus traditioneller japanischer Leserichtung und dem typisch franko-belgischen Albumformat. Ein schönes Beispiel, wie europäisch Taniguchi seine Werke anlegen konnte, ohne dabei die traditionellen japanischen (Manga-) Wurzeln zu vernachlässigen. (Bernd Weigand)

Jiro Taniguchi: Die Wächter des Louvre. Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand. Carlsen, Hamburg 2015. 136 Seiten. € 29,90

Auf Deutsch liegen zahlreiche weitere Bücher von Taniguchi  bei Schreiber & Leser und Carlsen vor.