„Der Wandel wird von den Frauen ausgehen“

Mana Neyestanis neue Graphic Novel „Die Spinne von Maschhad“ ist eine multiperspektivische Studie über das Verhältnis von religiösem Fanatismus und Frauenhass, ausgehend von dem realen Kriminalfall des Serienmörders Said Hanai im Iran zwischen 2000 und 2001. „Selten bekommt man so vielschichtige Einblicke in die iranische Gesellschaft wie in Mana Neyestani Graphic Novel“, urteilt Comic.de-Autorin Andrea Heinze in ihrer Rezension. Wir präsentieren mit freundlicher Genehmigung der Edition Moderne das Presseinterview mit Mana Neyestani.

© Edition Moderne

Danke, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch nehmen, Herr Neyestani. Sie leben und arbeiten seit 2010 in Paris, nachdem Sie und Ihre Frau 2006 aus dem Iran geflohen sind. Ist Frankreich inzwischen eine zweite Heimat für Sie geworden?
Eine zweite Heimat? Ich fühle mich hier wohl, aber ich will es mal so sagen, wenn man einen Menschen aus seiner Heimat reißt – zumal einen Menschen, der schon 35 Lebensjahre dort verbracht hat – wird man ein Gefühl der Leere in sich niemals loswerden. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit…

Sie arbeiten vorrangig als politischer Karikaturist, richtig?
Ja, ich zeichne politische Karikaturen für Magazine und Websiten aus dem iranisch-oppositionellen Umfeld, die ihre Redaktionen in den verschiedensten Ländern haben. Hin und wieder arbeite ich auch für nicht-iranische Medien. Und einen Teil meiner Arbeitstage opfere ich auch dem Comic – ich habe in Frankreich inzwischen mehrere Graphic Novels veröffentlicht. Meistens arbeite ich parallel an einzelnen politischen Cartoons und langwierigen Comic-Projekten.

Sind Comics und Cartoons für Sie zwei verschiedene Disziplinen oder nur zwei Ausprägungen desselben Handwerks? Zu welchem Medium fühlen Sie sich mehr hingezogen?
Wissen Sie, ich glaube, dass die Unterschiede zwischen den zwei Bereichen immer nur so groß sind, wie man es sich selber macht. Ich verwende zum Beispiel denselben Zeichenstil, egal ob ich einzelne Cartoons oder komplexe Comicerzählungen zeichne. Und es ist ja nicht so, dass Cartoons keinen Plot hätten. Ich sehe sie eher als Kurzgeschichten – eine Erzählung, die auf einen Augenblick verdichtet ist. Dieselbe Idee könnte ich auch in einer Comicgeschichte erzählen, hätte da aber, sagen wir mal, zehn Seiten zur Verfügung, inklusive verschiedenen Charakteren und deren Dialogen. Beide Erzählformen liegen mir. Die Pressezeichnung ist für mich eine (auffassungs)schnelle Reaktion auf die Außenwelt und das tagesaktuelle Geschehen und der Comic ist die tiefergehende Auseinandersetzung damit.

Seite aus „Die Spinne von Mashhad“ (Edition Moderne)

Welchen Kontakt und Austausch haben Sie mit dem iranischen Publikum? Werden Ihre Arbeiten nur in der iranischen Exil-Community gelesen, oder auch im Iran? Haben LeserInnen im Iran Zugang zu Ihren Comics und Zeichnungen?
Gedruckte Bücher von mir werden Sie im Iran nicht so leicht finden. Man müsste sie im Ausland erwerben und in den Iran einführen. Es gibt eine iranische Version von „Die Spinne von Maschhad“, in Frankreich publiziert. Der Herausgeber hat ein paar Exemplare illegal in den Iran schmuggeln lassen – als wäre er ein Drogenhändler oder so. Meine iranische Leserschaft kennt mich eher als einen politischen Karikaturisten – sie folgen meinen täglichen Cartoons auf Facebook und Instagram, teilen und diskutieren sie.

Gibt es so was wie den iranischen Comic überhaupt? Wie präsent und vernetzt ist die Szene?
Politische Karikaturen haben im Iran eine mehr als 100 Jahre alte Tradition, aber für Comics gilt das leider nicht. Es ist nicht leicht, Bücher an sich im Iran zu verlegen. Das finanzielle Risiko und die staatlichen Einschränkungen haben dafür gesorgt, dass im Iran nie eine nennenswerte Comiclandschaft entstanden ist. Anfang der Nullerjahre habe ich im Iran drei Graphic Novels in kleineren Verlagen veröffentlicht, die bis dato keine Erfahrung mit Comics hatten. Es war ein schwieriges Unterfangen und keines der Bücher hat sich finanziell rentiert.

2012 ist Ihre erste Graphic Novel in Frankreich erschienen, „Ein iranischer Albtraum“. Könnten Sie uns etwas über das Projekt erzählen? Wann haben Sie mit der Arbeiten daran angefangen? Warum war es Ihnen wichtig, Ihre Geschichte zu erzählen?
„Ein iranischer Albtraum“ wurde in Frankreich veröffentlicht, aber angefangen habe ich das Buch noch in Malaysia, 2009-2011. Das Buch ist eine autobiografische Erzählung und führt die LeserInnen zurück ins Jahr 2006, in dem ich für mehrere Monate inhaftiert war, dann das Land verlassen habe und mich im Exil wiederfand. Im Comic erzähle ich die Hintergründe meiner Verhaftung – eine komplizierte, juristische Angelegenheit und viele Aspekte daran liegen auch für mich immer noch im Dunkeln. Alles ging auf eine Illustration für eine Kinderzeitschrift zurück, die missverstanden wurde. Einige Leute aus der aserbaidschanischen Minderheit Irans haben die Zeichnung als rassistische Karikatur verstanden bzw. sie als Anlass genommen, um gegen das Regime zu demonstrieren und ihre Rechte einzufordern. Es gab Ausschreitungen und letztlich auch Tote. Meine Sicht auf die Dinge wurde in der öffentlichen Debatte niemals zur Sprache gebracht und so habe ich sie selbst gezeichnet. Der Comic war für mich auch eine Möglichkeit, die schlimmen Erinnerungen und Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Und nicht zuletzt auch ein Zeugnis über die Situation von Künstlern und Intellektuellen und der Redefreiheit im Iran.

Mana Neyestani (Text und Teichnungen): „Die Spinne von Mashhad“.
Aus dem Französischen von Christooh Schüler. Edition Moderne, Zürich, 2018. 164 Seiten. 22 Euro

Und natürlich wollen wir mit Ihnen auch über Ihr neues Buch, „Die Spinne von Maschhad“, sprechen. Ihr Buch orientiert sich an dem Dokumentarfilm „And Along Came a Spider“ von Maziar Bahari, der sich mit den Taten des Serienkillers Said Hanai beschäftigt. Ihr Buch hat eine äußerst ungewöhnliche Struktur: Der Hauptplot ist eine Art „Re-Imagening“ der Dreharbeiten und des Interviews mit dem Spinnenmörder im Gefängnis. In narrativen, fiktionalen Einschüben lassen Sie aber auch die Familie des Täters und der Opfer sowie den Richter zu Wort kommen. Was hat Sie an dem Stoff fasziniert? Und warum haben Sie sich für diese außergewöhnliche Erzählstruktur entschieden?
Der Dokumentarfilm von Maziar Bahari hat mich lange nicht losgelassen. Hauptsächlich wegen seines Protagonisten, des Mörders. Er wirkte so anders als die Serienkiller, die man aus anderen Filmen und Fällen kennt – höflich und selbstsicher, ein liebevoller Familienvater, ein netter Nachbar und ein geachteter Angestellter, der mit beiden Beinen im Leben und in der Gesellschaft stand. Er war nur vollständig einer Ideologie verfallen, die Prostituierte als absolut wertlos, als Abfall, betrachtet. Er wollte die Erde von diesem Unrat säubern. Und das Interessante an dem Fall war, dass Teile der Gesellschaft den Mörder moralisch unterstützt und ihn als Helden angesehen haben, weil sie seinen Glauben und seine Sicht teilten. Das habe ich noch in keinem anderen Serienkiller-Fall beobachtet. Anders ausgedrückt, Said Hanais Fall ist nicht nur ein faszinierender Kriminalfall, sondern das Sittengemälde der iranischen Gesellschaft, ihres Glaubens und ihrer Einstellung gegenüber Frauen.

Und was die Erzählstruktur anbelangt: Die meisten Figuren in den narrativen Einschüben sieht man auch im Dokumentarfilm, aber dort haben sie oft nur einige wenige Sätze. Ich fand es interessant, ihre Geschichten weiterzuspinnen und gezeichnet weiterzuentwickeln. Nicht zuletzt, weil ich das soziale Umfeld des Killers verstehen wollte, um ihn und seine Weltsicht für mich und die LeserInnen besser zu definieren. In etwa so wie man manchmal beim Zeichnen die Konturen um ein Bild verstärkt, um es von dem Hintergrund abzusetzen und sichtbarer zu machen.

Das Thema Ihres Buch ist der Spinnenmörder, Said Hanai, aber ich würde ihn nicht als Protagonisten bezeichnen. Für mich ist die Hauptfigur die Journalistin Roya Karimi Maj, die ihn interviewt. Durch ihre Augen sehen und verstehen wir Hanai. Wer ist Roya Karimi Maj, und warum haben Sie sich für ihre Perspektive entschieden?
Ich würde da widersprechen. Für mich hat das Buch keine Protagonisten oder Antagonisten, nur Opfer des Systems und der Ideologie. Roya Karimi war eine der beiden ReporterInnen, die den Killer interviewt haben. Auch wenn sie den Definitionen der iranischen Gesellschaft nach einen ehrbaren Beruf hatte, war sie immer noch eine Frau und damit ein potentielles Opfer des Mörders. Ich dachte, es würde die Erzählung glaubwürdiger machen, sie durch ihre Wahrnehmung zu schildern. Als Journalistin geriet sie wie unzählige andere ins Visier des iranischen Regimes und musste – Jahre später nach den Dreharbeiten zu dem Film – aus dem Land fliehen. Heute arbeitet sie für RadioFarda in Prag.

Seite aus „Die Spinne von Mashhad“ (Edition Moderne)

Ein weiteres starkes Motiv in Ihrem Buch ist die Perspektive von Kindern auf die Ereignisse im Iran. Hanais Sohn spielt eine wichtige Rolle. Und Sie zeigen, wie ihn die Taten seines Vaters und – noch weit mehr – die Billigung der Taten durch die iranische Öffentlichkeit prägen. Aber am verstörendsten ist das Kapitel, das Sie aus der Sicht der Tochter eines der Opfer erzählen, vollständig in Kinderzeichnungen. Warum wollten Sie diese Passage in Ihrem Buch haben? Und was erzählen Sie in „Die Spinne von Maschhad“ übers Kindsein und Aufwachsen im Iran?
Während der Straßenproteste nach den manipulierten Wahlen 2009 wurden zahlreiche der Demonstranten schwer verletzt und getötet, nicht nur von der Polizei, sondern auch von Milizen und zivilen Regierungsunterstützern. Die meisten dieser Konterdemonstranten waren junge Menschen, aus „armen Verhältnissen und bildungsfernen Schichten“, die vom Regime bewaffnet wurden. Als ich Fotos und Videos dieser brutalen Übergriffe in den sozialen Medien sah, war mein erster Gedanke: Diese Menschen waren vor wenigen Jahren noch unschuldige Kinder. Was ist mit ihnen passiert, das sie so gewalttätig gemacht hat? Was tun wir unseren Kindern an? Warum werden sie entweder zu Opfern des Systems oder zu Schlächtern im Namen der Regierung? Welche Verantwortung tragen Politik und Klerus für diese Metamorphose? Diese Fragen haben mich beschäftigt, während ich die Kapitel über Hanais Sohn und das kleine Mädchen gezeichnet habe. Diese zwei Kinder sind die Zukunft des Irans.

In dem eben angesprochenen Kapitel erzählen Sie aus der Sicht des kleinen Mädchens auch die Lebensgeschichte ihrer Mutter, einer der getöteten Prostituierten. Und dabei machen Sie sehr deutlich: Die Frau war nicht nur ein weiteres Opfer des Serienmörders, sondern auch ein Opfer ihres Ehemannes und das Opfer eines Kreislaufs aus Armut, Unterwürfigkeit und sozialer Hilflosigkeit. Wie steht es derzeit um die Rechte der Frauen im Iran? Was hat sich seit der Zeit der Spinnenmorde, begangen zwischen 2000 und 2001, verändert?
Ich glaube, dass sich seit 2000 vieles zum Besseren verändert hat. Frauen sind keine passiven Opfer mehr, sie kämpfen mutig um ihre Rechte. Während der Proteste 2009 standen Frauen in den vordersten Reihen. Sollte es irgendwann mal wirklichen Wandel im Iran geben, wird er von Frauen ausgehen. Die iranische Gesellschaft und ihr sozialpolitisches Gefüge fußt im Patriarchat und der Ungleichheit von Mann und Frau. Sollten die Frauen dieses System ins Wanken bringen, wird auch der Rest folgen.

Woran arbeiten Sie gerade? Ist wieder eine längere Comicerzählung im Entstehen, oder konzentrieren Sie sich nach „Die Spinne von Maschhad“ erst mal auf kürzere Arbeiten und politische Cartoons?
Ich arbeite bereits an meinem nächsten Graphic-Novel-Projekt. Es wird um meine Erfahrungen als Flüchtling gehen, vor allem um das Reisen mit meinem speziellen Refugee-Reisepass. Vor zehn Monaten hat mir eine Fluglinie auf dem Flughafen von Orly meine Boarding-Card nicht ausgestellt, weil ihre Maschinen die Daten in meinem Flüchtlingspass nicht verarbeiten konnten. Ich habe drei Stunden am Check-In gewartet und dann meinen Flug verpasst. Diese drei Stunden gestohlene Lebenszeit werde ich in meinem nächsten Buch verewigen.