Mehr als ein Kelten-Krimi – „Im Labyrinth der Erinnerungen“

„Im Labyrinth der Erinnerungen“ ist keine Neuerscheinung des inzwischen 68-jährigen, in Frankreich lebenden Andreas Martens, der sich einfach Andreas nennt und in Deutschland derzeit eine Renaissance erfährt, seitdem Schreiber & Leser seine Fantastik-Klassiker wie „Rork“ und „Capricorn“ hierzulande zugänglich macht. Nicht neu, aber dennoch ein kleiner Schatz.

Andreas (Autor und Zeichner): „Im Labyrinth der Erinnerungen“.
Schreiber & Leser, Hamburg 2019. 56 Seiten. 16,95 Euro

Der 56-seitige Comic handelt von einem Mord und seinem Täter, ist aber alles andere als eine Kriminalgeschichte: Weder fragen wir uns, wer der Täter sei, noch werden überhaupt Ermittlungen angestellt. Der sein Talent überschätzende Cythraul ist Mitglied einer vierköpfigen Schauspieltruppe, bis er in einer Spätoktobernacht beschließt, den Publikumsliebling Kadarn zu töten und dessen Schatulle zur Vortäuschung eines Raubmords zu stehlen. Er flieht aufs Land, wo er bei einer gastfreundlichen Familie unterkommt. Auf Anraten des Hausherrn sucht er eine Höhle auf, die der Gastgeber als interessante Attraktion inklusive legendärem Schatz anpreist und die der Gast als gelegenes Versteck vor der Polizei interpretiert. Cythraul verschafft sich meerseitigen Zugang zu der Höhle, die direkt nach seinem Eintreffen einstürzt.

Hier beginnt Cythrauls Andersweltreise durch die keltische Mythologie, durchbrochen von Rückblenden, die uns das Mordmotiv und die Durchführung schildern. Andreas hat verschiedene Bücher über die keltische Geschichte und Mythologie konsultiert, um seine Geschichte mit sachgerechten Details anzureichern. Da sind die Druiden Morfesa, Esras, Uiscias und Semias oder die Schafe, die bei ihrem Gang durch einen Fluss die Farbe wechseln. Andreas lässt seinen unsympathischen Protagonisten Cythraul wie auch die Leser bis zuletzt im Ungewissen, ob er seine Reise durch die Anderswelt als Toter oder als Lebendiger antritt, erst am Ende erlangen wir Gewissheit: Bereits beim Betreten der Höhle ist er ums Leben gekommen.

Seite aus „Im Labyrinth der Erinnerungen“ (Schreiber & Leser)

Wie in seiner Serie „Capricorn“ verleiht Andreas den widerstreitenden Kräften im Ringen um das Gute oder das Böse physische Gestalt. Auf abenteuerlich gestalteten Seiten führt Andreas uns durch sein Museum grotesker Seitenlayouts, eines schöner als das andere: horizontal, vertikal oder diagonal. Die Gegenwartshandlung wird immer wieder von Erinnerungen Cythrauls durchbrochen, sodass sich uns nach und nach das in seinem Stolz gekränkte Ego des Mörders erschließt.

Wie in seiner Kurzgeschichtensammlung „Raffington Event“, wo Andreas, Opfer, Täter und Ermittler durch seine Erzählungen dirigiert – nicht um Spannung zu erzeugen, sondern nur um seine grafische Virtuosität zu demonstrieren –, so greift das Label „Kriminalgeschichte“ auch hier zu kurz. Der einzige Krimi besteht in der Frage, ob der Leser das Rätsel am Ende entschlüsseln wird, das Labyrinth durchschreiten wird, das Andreas gestaltet hat.

Der Eingang in dieses wird dem Leser etwas erschwert: Dem Comic ist ein Vorwort von Claudine Hémery vorangestellt, das reichlich hölzern daherkommt: „Auch du suchst den Weg nach Norden. Lass dich auf die Bilder ein, denn Andreasʼ Zeichenstift bringt dich hin.“ Na ja, man kann ja blättern.

„Im Labyrinth der Erinnerungen“ ist kein „neuer“ Andreas, sondern die deutsche Erstveröffentlichung der französischen Erstausgabe von 1983. Unter dem Titel „La caverne du souvenir“ wurde der Comic erstmals 1983/84 in vier Ausgaben des Magazins Tintin veröffentlicht und erschien 1985 als Album bei Lombard. 2015 wurde der Band in Frankreich neu aufgelegt, Schreiber & Leser zieht nun nach und reiht den Titel in die Andreas-Bibliothek um „Cromwell Stone“, „Rork“, „Capricorn“ und „Raffington Event“ ein – eine Bibliothek, die bei Schreiber & Leser seit 2014 im Wachsen begriffen ist. Aber es ist noch einiges zu tun: Denn es schlummert noch mit der 18-bändigen Ausgabe von „Arq“ (1997–2015) ein ungehobener Schatz in der Höhle. Möge diese Höhle nicht einstürzen.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Im Labyrinth der Erinnerungen“ (Schreiber & Leser)