Die „Secret Wars“ haben ihre Spuren im Marvel-Universum hinterlassen und die verschiedensten Inkarnationen beliebter Helden und Schurken aus unterschiedlichen Paralleldimensionen wild in den Mixer geworfen. Ganz deutlich kann man das im nun auf Deutsch erschienenen „Reboot“ der weltweit wohl beliebtesten Comic-Mutanten beobachten. Unter der Leitung der weißmähnigen Wetterhexe „Storm“ formiert sich ein neues Team von „X-Men“. Das sind mutierte Heldinnen und Helden, die junge Angehörige ihrer ungewöhnlichen Spezies gegen Vorurteile und Gewalt zur Seite stehen und dabei auch die oft so feindseligen Menschheit vor mächtigen Gegnern schützen. Die neue Dimension des Hasses und der Verunsicherung kommt nicht von ungefähr. Die bereits in „Miss Marvel“ und bei den „Inhumans“ zentralen Terrigan-Nebel rufen nämlich nicht nur die latenten Inhuman-Fähigkeiten und -Erscheinungsbilder einiger Menschen hervor, sondern machen die „klassischen“ Mutanten auch krank. Todkrank. Und dank der schlicht „M-Pocken“ genannten Seuche und des von ihnen hervorgerufenen, grauenhaften Ausschlags ist jeder infizierte Mutant zu allem Überfluss auch noch gleich als solcher erkennbar…
Die ewige, vermeintlich ach so innovative und frische Remix-Kultur der großen Superhelden-Verlage muss man wahrhaftig nicht mögen. Und ein Szenario, in dem eine jugendliche Jean Grey aus der Vergangenheit auf den gebrochenen Wolverine aus einer endzeitlichen Zukunft trifft, das klingt zunächst einfach nur hanebüchen und trashig. Wenn man mit Autor Jeff Lemire (Descender, Sweet Tooth) allerdings für so eine große und wichtige Reihe nicht einen routinierten Superhelden-Schreiber engagiert, sondern jemanden der sich vor allem mit Indie-Comics und Graphic Novels einen Namen gemacht hat, dann passiert etwas besonderes. Es wird deutlich, dass völlig egal wie abstrus und an den Haaren herbeigezogen die Umstände in so einem Heldenheftchen auch sein mögen: Wer gut erzählen kann, kann etwas tolles aus der scheinbar ausweglosen Situation machen.
Mit perfektem Fingerspitzengefühl für Charakterentwicklung, Beziehungen, Dramaturgie und dem Timing von Pointen schreibt Lemire aus den ihm vor die Füße geworfenen Scherben ein wahnsinnig unterhaltsames und dichtes Mutanten-Abenteuer, das zum krönenden Abschluss von keinem geringeren als Cartoon-Primus Humberto Ramos (Spider-Man, Fairy Quest) in extrem dynamischen Bildexplosionen erzählt wird. Trotz einiger, nur kurz Erwähnung findender Zusammenhänge aus der Vergangenheit eignet sich der erste Band der neuen Reihe auch ganz klar für Neueinsteiger, die vielleicht im Kino auf die X-Men neugierig geworden sind.
Jeff Lemire, Humberto Ramos: X-Men (2016) Bd.1. Panini, Stuttgart 2016. Softcover, 124 Seiten, € 14,99