HERR DER AFFEN – Eine Variante der Greystoke-Geschichte

herr-der-affen-2-cvrNoch immer ist die Mordserie ungeklärt, die das viktorianische London erschüttert. Frauen werden brutal erwürgt und danach kunstvoll aufdrapiert. Die Polizei tappt im Dunkeln, zwischen Hinweisen auf Jack the Ripper, der es nicht sein kann, und Mr. Hyde, der doch eigentlich nur auf den Seiten der populären Literatur sein Unwesen treibt. Als man eine weitere Leiche im Zoo findet und ein Orang Utan einen Stoff-Fetzen in den Klauen hält, wendet man sich hilfesuchend an John Arthur Livingston. Dieser exotische Star der Gesellschaft, der als Findelkind in Borneo im Dschungel aufwuchs und dann von einer Expedition nach London gebracht wurde, versucht auf seine Art Licht in die Sache zu bringen. Er durchstreift die Parks, schwingt sich über Dächer und versucht, die Spur des Mörders aufzunehmen, immer durchdrungen von der Erinnerung an seine Heimat und an seine verlorene Geliebte Naicha. Als der Verdacht schon beinahe auf ein wildes Tier zu fallen scheint, macht Arthur eine erstaunliche Entdeckung…

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Philippe Bonifay („Zoo“, im Carlsen Verlag) führt im zweiten und letzten Band seiner ureigenen Greystoke-Variante seine Pastiche literarischer und geschichtlicher Motive konsequent fort, wobei die äußere Handlung deutlich hinter die assoziativen Gedankenfetzen der Hauptfigur zurücktreten. In einer fast schon bewusstseinsstromartigen Folge von Erinnerungen erleben wir, wie der junge Franzose Saturnine Farandoul von Victoria Livingstone, der Mutter des in Afrika verschollenen Forschers David Livingstone, aus dem Dschungel geholt wird – er soll den Traum Englands verkörpern, die kolonialistische Idee, dass auch am Ende der Welt die (vermeintliche) Zivilisation unzerstörbar bleibt und das in Wahrheit längst wankende britische Imperium ewig herrschen wird. Saturnine willigt ein und wird zu John – aber seine ungezügelte Sinnlichkeit und Körperlichkeit konterkarieren die ihn begaffende, bigotte viktorianische Gesellschaft, die nach außen moralisierend, nach innen verderbt und dekadent erscheint, verkörpert in der Schizophrenie des fiktiven Dr. Jekyll, der nur in Form des Unholds Hyde seine Persönlichkeit ausleben kann. Dass der Mörder selbstredend mitnichten ein Psychopath oder gar wildes Tier ist, sondern vielmehr aus der angeblichen Mitte der Gesellschaft kommt, unterstreicht diesen ironischen Kontrast zwischen Vitalität und Verfall nur umso mehr.

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Bonifays Vexierspiel mit literarischen Versatzstücken tritt im Vergleich zu Band 1 ein wenig zurück, es bleiben leichte Anklänge an Poes „Murders In The Rue Morgue“, wie gehabt dient das Tarzan-Motiv zur Dekonstruktion von Kolonialismus und der dekadenten viktorianischen Doppelmoral.

Berauschend erscheint erneut die optische Umsetzung durch Fabrice Meddour („Ganarah“, ebenfalls bei Splitter), der auch dank der stimmigen Colorierung durch Stéphane Paitreau atemberaubende Panels von Saturnines üppigen Dschungeln, finsteren nächtlichen Stadtansichten und nicht zuletzt von Johns erotischen Eskapaden entwickelt, wobei stets beeindruckende Physiognomie und dynamische Abfolgen zu bewundern sind. Inhaltlich vielleicht etwas weniger komplex als Band 1, aber definitiv ein Rausch für die Sinne, der auch die Story zu einem überraschenden Abschluss führt.

Philippe Bonifay, Fabrice Meddour: John Arthur Livingstone – Herr der Affen 2. Splitter, Bielefeld 2017. 56 Seiten, Euro 14,80