„Wir denken eine bereits in Gang befindliche Entwicklung einfach nur weiter“

Mit dem 5. Band der „Mermaid Project“-Serie wurde Leos, Corine Jamars und Fred Simons Sci-Fi-Story kürzlich abgeschlossen. Nicht nur Fred Simons Zeichenstil unterscheidet sich deutlich von Leos mitunter recht starren Bildkonzeptionen der weitläufigen Aldebaran-Zyklen. Auch die Mixtur aus Dystopie, Verschwörungs- wie Ökothriller und ökonomischer Krisenerzählung ist spürbar gegenwartspolitischer geworden, als man es von Leo bislang gewohnt war. Im Interview spricht das KünstlerInnentrio über die Entwicklung ihres gemeinsamen Projekts.

Leo (Spliter Verlag)

Mit dem vorliegenden Album kommt die Serie „Mermaid Project“ nach fünf Jahren Arbeit zum Abschluss. Corine, Leo, könnten Sie uns noch einmal in Erinnerung rufen, wie alles begann?
Leo: Mich hatte ein Buch von Corine, „Emplacement Réservé“, sehr beeindruckt, in dem sie die Mutter eines behinderten Kindes erzählen lässt. Dieser Monolog war so stark, so gekonnt und so witzig, dass mir der Gedanke kam, ihr vorzuschlagen, zusammen einen Comic zu machen, in dem eine Frau die Hauptrolle spielen sollte.

Corine Jamar: Tatsächlich waren Leo und seine Frau Isabel von meinem ersten Roman sehr angetan gewesen und hatten ihn für das Theater adaptiert1. Wir haben uns angefreundet, aber ich hatte nicht erwartet, dass Leo mich bitten würde, zusammen mit ihm einen Comic zu schreiben. Etwa zehn Jahre zuvor hatte ich bei Glénat eine Trilogie veröffentlicht [„Les filles d’Aphrodite“, Anm. d. Übs.], doch damit war mein Ausflug in die Welt der Comics auch schon beendet. Ich vollführte einen Freudensprung, und da Leo zu der Sorte Mensch gehört, die das Eisen schmieden wollen, solange es heiß ist, trafen wir uns schon bald darauf, um alles zu besprechen. Daraus entwickelte sich ein kleines Ritual: Leo kommt nach Brüssel, wir suchen uns ein ruhiges Restaurant in Bahnhofsnähe, trinken einen Aperitif und unterhalten uns bis zum Mittagessen über Gott und die Welt – private Dinge, Anekdotisches, über Politik und über „Mermaid Project“. So ein lockerer Gedankenaustausch ist sehr ergiebig, weil man sich nicht zensiert, das ist zumindest mein Eindruck. Dabei machen wir uns Notizen, die wir anschließend sortieren. Was dann folgt, hängt ein wenig von den Alben ab: Der eine umreißt in groben Zügen eine Handlung, der andere nimmt Stellung dazu, und so baut sich nach und nach die Geschichte auf…

Corine Jamar (Splitter Verlag)

Wie sind Sie auf Fred Simon als Zeichner gekommen?
Leo: Ich hatte seine Serie „Rails“ gelesen und war sehr beeindruckt von seinem Zeichenstil. Nicht nur von der Qualität seiner unglaublich präzisen Kulissen, sondern auch von seiner Fähigkeit, feinste Gefühlsregungen auf den Gesichtern der Figuren abzubilden. Das ist eine seltene Begabung!

Corine Jamar: Leo und François, der Verleger, hatten ihn vorgeschlagen. Ich kannte ihn nicht und bin sofort in eine Buchhandlung gegangen, um mir Comics von ihm anzuschauen. Tatsächlich gelingt es Fred in seinen Zeichnungen, den Gesichtsausdruck seiner Figuren sehr wirklichkeitsgetreu umzusetzen – eine Fähigkeit, die nicht jedem Zeichner gegeben ist. Leo und ich brauchen in der finalen Beschreibung gar nicht mehr anzugeben, welchen Ausdruck diese oder jene Figur haben soll. Fred wählt, basierend allein auf dem Dialog, automatisch den passenden aus. Man mag dies für eine Selbstverständlichkeit halten, aber das ist es nicht. Ich merke es, wenn ich andere Comics lese und feststelle, dass der Gesichtsausdruck einer Figur nicht immer gut getroffen ist. Gleiches gilt für den Zuschnitt der Seiten und die Inszenierung im Allgemeinen. Leo und ich setzen den szenischen Rahmen und legen die Anzahl der Panels fest (die Fred selbstverständlich immer ändern kann), müssen aber keine besonders präzise Beschreibung liefern. Fred interpretiert alles perfekt: die Handlung, den Ausdruck der Figuren, auch deren Beziehungen untereinander, die Art und Weise, wie sie sich im Raum bewegen und vieles mehr. Die akribische Sorgfalt, die er auf die Kulissen verwendet, unterstreicht dies noch. Es ist die Art von Album, das man wegen der vielen Details, die man nach und nach darin entdeckt, immer wieder liest.

Fred Simon (Splitter Verlag)

„Mermaid Project“ ist eine Science-Fiction-Serie und spielt überwiegend in einer Welt, die sich nach einer schweren Umwelt- und Energiekrise im Wiederaufbau befindet. Kann man diese Wahl als einen kämpferischen Akt deuten, bei dem man künstlerisch Partei ergreift?
Leo: Für mich entsteht ein Comic aus dem Wunsch heraus, eine gute Geschichte zu erzählen, die in erster Linie den Leser unterhalten soll. Aber natürlich kommen durch die Wahl des Themas, der Charaktere und der Handlung auch unsere Sicht auf die Welt und unsere persönlichen Vorstellungen zum Ausdruck. Aber sie schlagen sich nahezu unbewusst darin nieder, bleiben im Hintergrund. Ich könnte mir kein Projekt denken, bei dem ich mir sage: „Ich will diese oder jene Botschaft vermitteln und muss darüber eine Geschichte schreiben.“

Corine Jamar: Als wir uns das erste Mal trafen, um die Möglichkeit zu erörtern, gemeinsam einen Comic zu machen, kam Leo auf die Idee mit dieser Polizistin, wusste allerdings noch nicht, in welchem Zeitalter er sie unterbringen sollte. Leos Universum ist eindeutig futuristisch, das meine dagegen aktueller und realistischer, jedenfalls in meinen Romanen (die bei Glénat erschienene Comic-Trilogie „Les Filles d’Aphrodite“ spielt in den 1930er Jahren). Also einigten wir uns auf einen Kompromiss und begannen, uns eine Welt vorzustellen, die nicht allzu weit von der heutigen entfernt ist. Wir haben unserer Fantasie freien Lauf gelassen und nach und nach den geopolitischen und ökonomischen Rahmen festgelegt, in dem wir unsere Geschichte ansiedeln wollten.

Natürlich lässt sich aus den Worten der handelnden Personen ein gewisses Maß an Engagement heraushören, aber es war nie gedacht, eine Botschaft zu vermitteln. Andererseits hätte mich eine Geschichte, die ausschließlich Unterhaltsames bietet, nicht interessiert. Im Fall von „Mermaid Project“ sind Leo und ich tatsächlich mit einigen unserer Vorstellungen präsent, aber mit einer klaren Vorgabe: Sie müssen in allererster Linie der Geschichte dienen, sonst – raus damit!

Leo (Autor), Corine Jamar (Autorin), Fred Simon (Zeichner): „Mermaid Project Band 1-5“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2018/2019. 48/56 Seiten. Je 14,80 Euro

Die Gesellschaft, in der sich Ihre Figuren entwickeln, ist geprägt von starken Ressentiments gegenüber den Weißen. Kann man diese Umkehrung diskriminierender Kräfte als Aufforderung an den Leser verstehen, über das herkömmliche Modell einer dominanten westlichen Welt nachzudenken?
Leo: Wie ich bereits sagte, besteht zu Anfang nicht die Absicht, den Leser zum Nachdenken einzuladen. Corine und ich waren bemüht, in Bezug auf die Welt von morgen, wie wir sie uns vorgestellt haben, so realistisch und glaubwürdig wie möglich zu sein. Wir haben nur die Daten und Trends hochgerechnet, über die wir heute schon verfügen. Auch wenn die Zukunft, die uns erwartet, nicht unbedingt so sein wird, wie wir sie in unserer Geschichte beschreiben, so haben wir doch versucht uns vorzustellen, welchen Weg sie einschlagen könnte.

Corine Jamar: Diese Idee hat sich auf ganz natürliche Weise eingestellt, als wir uns nach einer Reihe von Konflikten und Klimakatastrophen den Zustand der Welt eingehend betrachtet und diskutiert haben. In Ansätzen war sie schon vorhanden, als wir vor mehr als fünf Jahren begannen, über unser Projekt nachzudenken. Zum Beispiel hatten wir beschlossen, einem Bad Guy der Serie den Namen Trump zu geben, als die Medien gerade erst anfingen, über ihn zu berichten. Es war nur ein Augenzwinkern zwischen uns, mehr nicht. Obwohl er uns Angst machte, waren wir doch meilenweit davon entfernt, uns vorstellen zu können, dass er einmal Präsident der Vereinigten Staaten werden würde! Unsere Serie hat etwas recht Pessimistisches. Zwar ist eine andere, gerechtere Form von Gesellschaft entstanden, aber die niederen Instinkte des Menschen, dessen Gehirn seit ewigen Zeiten auf die immer gleiche Weise funktioniert, haben wieder die Oberhand gewonnen. Algapower symbolisiert diese Erkenntnis.

Hinsichtlich ihrer Darstellung ist diese imaginäre Welt der unseren sehr ähnlich, ohne eine Kopie davon zu sein, Fred. Sie hat so gewaltige Umwälzungen erfahren, dass der Realismus Ihrer Zeichnungen manchmal ein verstörendes und beängstigendes Gefühl erzeugt. Wie sehen Sie Ihre Wahl?
Fred Simon: Ich finde nicht, dass meine Zeichnungen realistisch sind. Vielleicht entsteht dieser Eindruck durch die sehr detailliert wiedergegebenen Kulissen… Ich gehe dabei oft von einem Foto oder einem Bestandteil aus, aus dem sich alles Weitere ergibt. Zum Beispiel ein Gebäude oder eine Straßenansicht… Dem füge ich dann Spuren von Zerstörung, tropische Pflanzen, außen liegende Rohre hinzu – alles, was die Realität verschieben kann, aber dennoch in der Logik des Universums von Corine und Leo bleibt.

Seite aus „Mermaid Project Episode 4“ (Splitter Verlag)

Die Meerjungfrau ist eine legendäre, mythische Kreatur, halb Frau, halb Fisch. In „Mermaid Project“ erschaffen Wissenschaftler von Algapower ein Hybridwesen, halb Frau, halb Delfin. Gab es eine besondere Präferenz bei der Wahl dieses Säugetiers?
Leo: Wir wollten so glaubwürdig wie möglich sein, und hielten den Delfin aufgrund seiner Größe und seiner Eigenschaften als hochintelligentes Säugetier für den idealen Kandidaten.

Corine Jamar: Und das ist er auch! Delfine waren Gegenstand zahlreicher Studien, nicht zuletzt im militärischen Bereich. Die Amerikaner haben sie zum Beispiel eingesetzt, um Ausrüstungsgegenstände vom Meeresboden heraufzuholen. Alqapower will sie benutzen, um Algen einzusammeln. Ebenfalls im militärischen Kontext haben Wissenschaftler die Haut von Delfinen analysiert und versucht, mit ihnen zu kommunizieren. In den 1980er Jahren war es Forschern gelungen, Hühner ohne Gefieder und Schafe ohne Wolle zu züchten. Ebenso Ziegen, die Spinnenseide produzierten. Sie haben es auch geschafft, bei Hühnern den Mutterinstinkt zu unterdrücken, um die Brutphase auszuschalten – das alles ist wahr! Auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin gelang es Professor Sergio Canavero, der in den 1970er Jahren die Arbeiten von Robert J. White fortführte, den Kopf eines Affen auf den Körper eines Artgenossen zu setzen. Ich habe das in der amerikanischen Zeitschrift Surgical Neurology International gelesen. Verstehen Sie? Wir erfinden nichts, sondern denken die Entwicklung ein wenig weiter.

Gab es Vorgaben für die äußere Erscheinung von Romane, besonders ihre jungenhaften Züge?
Leo: Ich meine, dass das Szenario, das wir an Fred geschickt haben, diesbezüglich kaum Hinweise enthielt. Etwa in der Art „Sie soll keine Schönheitskönigin sein, aber liebenswert und charismatisch“. Das ist leicht gesagt! Aber schon die erste Skizze, die Fred uns schickte, traf es genau!

Corine Jamar: Fred hat von uns vor allem Hinweise auf Romanes Persönlichkeit erhalten. Sie ist verletzlich, weil sie in der Gesellschaft eine „minderwertige“ Stellung einnimmt. Zugleich hat sie Biss, ist hochmotiviert, lässt sich nicht unterkriegen. Überdies ist sie eine Idealistin, was uns die Möglichkeit gab zu zeigen, wie sie manchmal an der Welt verzweifelt, in der sie lebt. Fred hat es geschafft, die Synthese zwischen einer Frau, die sich nicht immer wohlfühlt in ihrer Haut und dennoch nie lockerlässt, grafisch umzusetzen.

Seite aus „Mermaid Project Episode 2“ (Splitter Verlag)

Auf welche Inspirationsquellen haben Sie sich gestützt, Fred, als Sie die Figur der Romane erfanden?
Fred Simon: Was Romane betrifft, waren wir alle auf der gleichen Wellenlänge. Sie sollte ein „normales“ Mädchen sein, blond, aber kein Modepüppchen, das war der Ausgangspunkt. Und sie war sofort da, mit der ersten Skizze. Und da sie allen gefiel, war das geklärt. Heute entdecke ich gewisse Ähnlichkeit mit anderen Figuren, die ich in meinen früheren Serien gezeichnet habe, aber damals hatte ich das noch nicht bemerkt…

Was haben Sie am liebsten gezeichnet? Und was weniger gern?
Fred Simon: Was ich zu zeichnen habe, ist sehr abwechslungsreich, das ist das Interessante und Angenehme. In Band 1 hatte ich Probleme mit der Vorderansicht eines Delfins, seitdem vermeide ich das…

Sie arbeiten zurzeit an einer Fortsetzung, die eigentlich mit einer neuen Geschichte beginnt, in der aber dieselben Figuren auftreten. Können Sie uns, ohne zu viel zu verraten, etwas darüber erzählen?
Leo: Während der Ereignisse, die sich gegen Ende von „Mermaid Project“ abspielen, werden unsere Helden zu Zeugen eines erstaunlichen Vorgangs: Die rasche Mutation lässt die Wale und ganz besonders die Delfine immer intelligenter werden. Dieses Phänomen wird nicht störungsfrei verlaufen, und einige Personen werden es ohne jeden Skrupel zu ihrem eigenen Profit nutzen wollen. Romane und El Malik müssen ihren Dienst wieder aufnehmen, um zu verhindern, dass menschliche Torheit erneut in eine Katastrophe führt.

Corine Jamar: Die Artenvielfalt der Unterwasserlebewesen hat in den letzten Jahrzehnten um fast 60% abgenommen, einige wurden genmanipuliert, vor allem Lachse. Das hat uns inspiriert. Die derzeit an Tieren vorgenommenen genetischen Manipulationen haben Auswirkungen und werden sie auch zukünftig haben. Wie ich schon sagte, denken wir eine bereits in Gang befindliche Entwicklung einfach nur weiter.

Stimmt es, dass die neue Geschichte aus zwei Alben bestehen und mehr Seiten umfassen wird?
Leo: Ja, wir haben uns auf Anraten unseres Verlegers für ein zweibändiges Format von 62 Seiten entschieden3. Dadurch verhindern wir, dass der Leser zu lange auf das Folgealbum warten muss, wie es oft bei 5 Bänden zu je 48 Seiten der Fall ist. Ich halte diese Seiteneinteilung bei dieser Art von Thriller mit den vielen Wendungen und Parallelerzählungen für besser geeignet.

Dieses Interview erschien zuerst in „Mermaid Project Episode 5“ (Splitter Verlag, Bielefeld 2019).

Seite aus „Mermaid Project Episode 1“ (Splitter Verlag)