Die Odyssee mal anders – „Ulysses 1781“

Schlecht sah‘s aus, am Ende des letzten Bandes. Wir erinnern uns: Captain Ulysses McHendricks, seines Zeichens Held des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, zog gegen den mysteriösen Wendigo massiv den Kürzeren. Ulysses und seine verwegene Crew wollten schleunigst mit ihrem „Überland-Schiff“ nach New Itakee. Dort ist seine Frau samt dem ganzen Dorf in der Gewalt der eigentlich schon geschlagenen Engländer, die von dem skrupellosen Colonel Montrose befehligt werden. Auf dem Weg dorthin entschied man sich (nicht ganz freiwillig) für eine Abkürzung durch das berüchtigte Wishita Tal, das von dem Wendigo, jener mystischen Indianer-Gestalt, beherrscht wird. Nun schlägt sich Ulysses, der sich mit Ach und Krach befreien konnte, schwer verletzt durch, zurück zu seinem berädertem Schiff, nur um zu erfahren, dass die Crew – jene, die noch lebten – samt seinem Sohn Mack von dem Wendigo entführt wurde und in einem Loch unter einem großen Felsen darauf wartet, einer nach dem anderen verspeist zu werden. Aber Ulysses lässt nicht locker. Als er unerwartete Hilfe von dem Indianer Yuma erhält, fasst er einen Plan. Nicht mit Gewalt, sondern mit List und Tücke, soll der Wendigo, genannt One-Eye, vernichtet und die Crew gerettet werden…

Autor Xavier Dorison, der seit jeher für gehobene Comic-Unterhaltung (Long John Silver, Das Dritte Testament) und spannende Inszenierungen (Asgard, Der Waffenmeister) steht, bindet in „Ulysses 1781“ natürlich einen ganz alten Klassiker der Weltliteratur in seine Geschichte ein. Mehr noch, er nimmt Homers Odyssee als Vorlage und „verpflanzt“ die Handlung in die Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Engländer. Aus Ithaka wird New Itakee, aus Odysseus‘ Sohn Telemachos wird Ulysses‘ Sprössling Mack, aus den Freiern, die sich in seinem Haus breit machen, werden Engländer, die seine Frau bedrängen. Dazu platziert Dorison immer wieder Original-Zitate aus Homers Werk zwischen den Seiten. Und das Beste: obwohl die Story ausschließlich (bis jetzt zumindest) zu Lande spielt, ist ein Schiff immer mit von Partei. Der stolze „Segler“ heißt Acheron (wie der Unterwelt-Fluss und das Schiff aus Peter Weirs Film „Master and Commander“), steht auf mächtigen, gefederten Rädern, wird von einer ganzen Horde von Gäulen gezogen und ist der heimliche Star der Story. Beeindruckend für Verbündete und furchteinflößend für Feinde.

Als passendes Kapitel für den Auftakt, bzw. den ersten Zyklus wählt Dorison ein prominentes Kapitel (bzw. einen Gesang) aus der Odyssee, nämlich den Kampf gegen den Zyklopen. Damit die Homer-Motive nicht überstrapaziert werden und ein wenig örtliche „Credibility“ in die Story einziehen kann, webt Dorison noch einen anderen Mythos in die Handlung ein: Den Wendigo, jenes Menschen fressende Monster aus indianischen Legenden, das als entfernter Verwandter unseres Werwolfs nur nachts und nur bei Vollmond auf die Pirsch geht. Und hier treffen sich Odyssee und Indianer-Legenden, denn der Wendigo ist gleichzeitig der Zyklop, mit zwei sehenden und einem mystischen Auge ausgestattet. Und der vermeintlich ungleiche Kampf, der in den ersten Runden stets an den Wendigo-Zyklopen geht, wird, nachdem Ulysses pure Gewalt gegen Verstand eintauscht, immer ausgeglichener. Das Ende, hier hält man sich wieder an Homers Vorlage, ist bekannt. Der Klügere gibt hier nicht nach, sondern trägt den Sieg davon.

Als Zeichner mit an Bord ist ebenfalls kein Unbekannter. Éric Hérenguel, der mit „Silbermond über Providence“ (ebenfalls bei Splitter) bereits in Sachen amerikanischer Geschichte unterwegs war, setzt das Geschehen durchweg düster in Szene. Sein Ulysses/Odysseus ist eine rechte Wildsau, die keinem Kampf ausweicht und vornehmlich mit dem Kopf durch die Wand geht, immer impulsiv und explosiv. Der finstere, unheimliche Wald, das schwarze Verlies – überall im Wishita Tal dräut Unheil, bestens visualisiert in den kraftvollen, teilweise roh behauenen Panels und der durchweg dunklen Farbpalette. Mitunter sprechen nur die Bilder – manche Seiten kommen ganz ohne oder nur mit wenig Text und Dialog aus. Mit den beiden nun vorliegenden Bänden ist der erste Zyklus beendet. Wie geht es weiter – welcher Teil der Odyssee folgt nun? Lassen wir uns überraschen. Auch in Frankreich ist noch kein neuer Band erschienen.

Eine Leseprobe gibt es hier.

Xavier Dorison, Éric Hérenguel: Ulysses 1781: Band 2 – Der Zyklop. Splitter Verlag, Bielefeld 2017. 56 Seiten, 14,80 Euro