Comicreportagen – Wesensmerkmale einer Gattung

Sarah Glidden: "Im Schatten des Krieges" (Reprodukt)
Entscheidet sich ein Comiczeichner, eine Comicreportage zu entwerfen, so verlässt er sein Dasein als reiner Zeichenkünstler und avanciert zum Reporter. Dadurch gewährleistet er den Wahrheitsgehalt seines Narrativs. Jedoch ist er keineswegs mit einem Historiker zu verwechseln. Seine Berichterstattung ist persönlicher, beinhaltet womöglich eine Wertung über die berichteten Ereignisse. Mit Stil und Ausdruck seines Comics werden Verstand und Emotionen gleichermaßen angesprochen. Comicreportagen sind zwar mit Fakten versehen, aufgrund der subjektiven Perspektive gehen sie indes über die reine Dokumentation hinaus. Der Autor positioniert sich mit seinem Werk, möchte vermitteln, womöglich unterhalten, sicherlich auch kritisieren. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wird die Comicreportage zu einem aufwühlenden Mittel. Leser sehen in ihr ein Dokument historisch-subjektiver Prägung. Wie schon Brecht einst über die Fotografie schrieb, dass die bloße Abbildung nichts über den Gegenstand verrate, erhellt sich die gezeigte Wirklichkeit erst über die ihr angedeihte Funktion. Als Realismus gilt nicht eine unmittelbare und detailgetreue Wiedergabe, sondern erst die demaskierende Bildinterpretation. Bilder sind etwas Konstruiertes. Sie bieten dem Betrachter, im Hinblick auf dessen Vorwissen und Erfahrungen, einen „Resonanzboden“. Mit diesen Voraussetzungen entsteht aus dem Gezeigten ein Bild, beladen mit Inhalt und Emotion.

Marie-Laure Ryan erkennt gerade in diesem Spannungsverhältnis zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalität eine Schärfung der Wahrnehmung, der Rezipient ist andauernd gezwungen, zwischen diesen beiden Polen zu unterscheiden. Noch deutlicher tritt dieser Umstand bei sogenannten Hybriddokumentationen hervor, unter die sich auch Comicreportagen subsumieren lassen. Comics versuchen erst gar nicht, ihre Künstlichkeit zu verbergen. Schon 1977 verweist der französische Semiotiker Pierre Fresnault-Deruelle auf die hohe Selbstreferenzialität des Comics.

Einige aktuelle Comicreportagen: „Der Riss“ von Guillermo Abril und Carlos Spottorno (Avant Verlag)

Anders als die Fotografie verzerren Comics bewusst die Wirklichkeit. Weshalb wird dann diese Kunstform überhaupt für dokumentarische Zwecke genutzt? Im Vergleich zu anderen Gattungen wie dem Fotojournalismus unterscheiden sich Comicreportagen durch ihre Form der Darstellung, in die zugleich implizit die Recherche einfließt. Auch wenn Menschen als Mäuse und Katzen gezeichnet werden wie in Art Spiegelmans „Maus“, besitzen sie wie filmische Dokumentationen denselben Anspruch auf Authentizität, dass sich die Ereignisse tatsächlich so abspielten und mit Fakten untermauert sind. Wobei Faktisch in sich selbst ein Problem birgt. Annette Hill deutet darauf hin, dass Faktisch schon ein mit Wertevorstellungen beladener Begriff und in seiner Bedeutung abhängig von Assoziationen ist, was denn nun als die Wahrheit angesehen wird oder nicht. Comics brechen mit diesem Dilemma. Sie versuchen erst gar nicht, eine Illusion von Faktizität zu erzeugen, sondern stellen ihre Konstruiertheit bewusst in den Vordergrund, was einer Fotokamera nur bedingt möglich ist.

Um die möglichen Ausprägungen von Comicreportagen ein wenig zu systematisieren, lassen sich Anleihen aus dem Dokumentarfilm entnehmen, den der Filmtheoretiker Bill Nichols in sechs Kategorien unterteilt. Er benennt sechs Modi – der poetische, der expositorische, der beobachtende, der interaktive, der selbstreflexive und zuletzt der performative Modus -, in denen eine Dokumentation realisiert werden kann. Dabei treten diese Modi keinesfalls ausschließlich isoliert auf, sondern können sich vermischen.

Sechs Modi eines Dokumentarfilms

Im poetischen Modus greift die Dokumentation auf Geschehnisse in der Wirklichkeit zurück, verändert diese jedoch markant. Die aufgegriffenen Begebenheiten werden u. a. nicht an einem bestimmten Ort und zu einer gewissen Zeit wiedergegeben. In dieser Vagheit widmet sich die Darstellung eher einer assoziativen Annäherung, in der die Stimmung, der Ton und Affekte vorrangig sind.

Am häufigsten kommt in Dokumentationen der expositorische Modus zum Einsatz. Anders als in der poetischen Verfahrensweise gliedert sich die Exposition in ein filmisch-argumentatives Konstrukt. Häufiger Kunstgriff ist die Stimme aus dem Off, die einen allwissenden Charakter aufweist. Die Anordnung des gezeigten Materials folgt einer internen Logik, die sich an Argumenten ausrichtet. Diese bleiben jedoch zumeist allgemeiner Natur, womit sie den Anschein von Sachlichkeit erwecken. Bilder hingegen spielen eine untergeordnete Rolle. In Comics finden sich diese Merkmale u. a. durch Kommentare auf dem Textboden wieder. Dem Leser soll somit eine Expertise suggeriert werden, die er nicht anzuzweifeln braucht. Zusätzlich verbindet der Text die einzelnen Geschehnisse miteinander und liefert darüber hinaus zusätzliche Informationen über Ort und Zeit.

„Liebe deinen Nächsten“ von Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer (Splitter Verlag)

Beim beobachtenden Modus fängt die Kamera alles ein, was vor ihrer Linse geschieht, ohne jegliches Eingreifen des Regisseurs. Solch eine Verfahrensweise ist im Comic nicht zu realisieren, sodass nur von einem pseudo-beobachtenden Modus die Rede sein kann. Indem ein Comiczeichner versucht, seine Zeichnungen so realistisch wie möglich zu gestalten, kann damit eine glaubhafte Repräsentation von Wirklichkeit geschaffen werden. Trotz allem ist die Aufrechterhaltung von reiner Observation im Comic schwierig umzusetzen und selten vorzufinden.

Greift der Regisseur selbst in ein aufgenommenes Geschehen ein, so handelt es sich hierbei um den sogenannten interaktiven Modus. Wie der Regisseur eine Situation erlebt, steht hier im Fokus des Interesses. Bei Filmarbeiten ist es meist für Anwesende sofort ersichtlich, dass ein Film gedreht wird, meist ist ein Team von mehreren Personen vor Ort. Nicht so im Comic, zumal es sich in der Regel nur um einen Zeichner handelt, dessen Intention seiner Recherche nicht sogleich erkennbar ist.

Was ist eigentlich Wissen und wie wird dies vermittelt? Diese Frage stellt sich im performativen Modus. Meist werden Einzelschicksale dargestellt, die den Zuschauer emotional berühren. Größere Zusammenhänge werden durch einen Einzelfall verdeutlicht und verallgemeinert.

Erinnerung und Authentizität

Für ihre grafischen Narrative verwenden Comiczeichner meist die Aussagen von Augenzeugen. In einem rückblickenden Moment rekonstruieren sie die Erlebnisse aus der Erinnerung und geben sie wieder. Diesen Umstand hält der französische Philosoph Paul Ricœur für äußerst problematisch. Die Wesensmerkmale von Aussagen und Erinnerungen weisen Ähnlichkeiten zu Fiktion und Realität auf. Aussagen werden stets in einem Narrativ wiedergegeben. Selbst bei der Rekonstruktion der Vergangenheit greift der Erinnernde auf kulturelle Modi des Erinnerns und Erzählens zurück. Dieser Moment führt zu einer Anwesenheit der Abwesenheit. Somit taucht durch das Erzählen das vergangene Ereignis auf oder es bildet eine Anwesenheit durch die Erinnerung, aufbewahrt im Gedächtnis. Ricœur liefert einen Ausweg aus dem Dilemma mit der Einführung der Imagination als einen rekonstruierten Mechanismus innerhalb des Gedächtnisses, aus dem die Bilder der Erinnerung abgerufen werden.

„Dem Krieg entronnen“ von Olivier Kugler (Edition Moderne)

Eines der vielen Probleme, die beim Erzählen von Erlebnissen auftreten, ist das der Authentizität. Es scheint, dass Erfahrung nicht unbedingt zu den wichtigsten Attributen einer Dokumentation zählt. Vielmehr hängt ihr Wert von den Informationen ab, ebenso von der Aufrichtigkeit des Autors. Was Authentizität ausmacht, ist Korrespondenz und Genese. Die im Comic vorzufindende Kombination aus Bild und Text vereint beide Aspekte. Korrespondenz als Beweis für ein sich ereignetes Geschehen und Genese als sichtliche Kennzeichnung des Autors, dass das Bildkonstrukt von ihm stammt. Der in ihnen beiliegende Imperativ bekräftigt zudem die Ähnlichkeit zur Wirklichkeit und schafft gleichzeitig ein eigenes symbolisches Gewebe. Es erzeugt damit eine metaphysische Realität.

Art Spiegelman selbst erkennt die Problematik von Erinnerungen, demnach sie nicht einfach zu verifizieren sind. Insbesondere bei erlebten Traumata wird offenbar, dass diese mit einer hohen Intensität den Zeugen überwältigen können. Dadurch ist er nicht mehr in der Lage, seine Erfahrung in all ihrer Gänze zu erleben und zu verstehen. Einen Ausweg sehen die Autoren und Zeichner von dokumentarischen Comics darin, das Erlebte in ihren spezifischen Erzählformen zu verarbeiten und einer interessierten Öffentlichkeit zu offerieren.

Dieser Text erschien zuerst leicht verändert auf: Striche & Zeichen

Quellen:

Adams, Jeff: Documentary Graphic Novels and Social Realism. Bern: Peter Lang Verlag 2008 (= Cultural Interactions. Studies in the Relationship between the Arts. Hrsg. v. J.B. Bullen. Volume 7).

Grünewald, Dietrich: Zwischen Fakt und Fiktion. Dokumentarische Bildgeschichten. In: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. 6. Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Hrsg. v. Dietrich Grünewald. Essen: Christian A. Bachmann Verlag 2013. S. 9-14.

Lefèvre, Pascal: Die Modi dokumentarischer Comics. In: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. 6. Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Hrsg. v. Dietrich Grünewald. Essen: Christian A. Bachmann Verlag 2013. S. 31-49.

Anton Littau ist Content Manager und Junior Digital Analyst – Performance Marketer bei der Berliner Agentur Moccu und verfasst nebenher Essays über Comics und Graphic Novels.