Die kanadische Comickünstlerin Kate Beaton ist einer der Stars der internationalen Webcomic-Szene. Für ihren charmant-schrulligen Online-Strip „Hark! A Vagrant“, in dem sich die studierte Kulturanthropologin über historische Figuren, Literaturgestalten und Comic-Ikonen lustig macht und immer wieder auch die Stellung der Frau in Geschichte und Popkultur thematisiert, erhielt sie etliche Auszeichnungen, und ihr Buchdebüt landete in den USA auf den Bestsellerlisten. Auf Deutsch liegen ihre Strips bei Zwerchfell vor („Obacht! Lumpenpack“, „Zur Seite, Kerl“).
Über die letzten Jahre hat Kate Beaton an ihrem bislang umfangreichsten und ambitioniertesten Projekt gearbeitet: „Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden“ (hier die Kritik auf Comic.de). In ihrer ersten buchlangen Erzählung kehrt sie zurück ins Jahr 2005, als sie mit Diplom in der Tasche und einem Berg voll Schulden beschloss, ihr Studiendarlehen auf den Ölsandfeldern Westkanadas abzustottern. Die nuller Jahre waren der Höhepunkt des Öl-Booms – in der Wildnis Westkanadas entstanden Containerstädte, die vor allem die Ostküstenbewohner*innen anzogen, deren Region durch den Niedergang der Fischereiindustrie kaum Perspektiven bot. Zwei Jahre arbeitete Kate Beaton in den Ölsanden. Schonungslos gibt sie in „Ducks“ den Alltag im Fracking-Camp wieder, der von Übergriffen, Einsamkeit und extremer körperlicher und seelischer Belastung geprägt ist. Über die Hintergründe des Projekts spricht sie im folgenden Presse-Interview.
Liebe Kate, danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns über deine inzwischen vielfach prämierten Comic-Memoiren „Ducks“ zu sprechen. Zu Beginn würde ich gerne ein bisschen über deine eigene Comic-Sozialisierung erfahren. Bist du mit Comics aufgewachsen? Und wie bist du zum Zeichnen gekommen?
In meiner Jugend haben Comics kaum eine Rolle gespielt. Ich habe hier und da welche gelesen, vor allem Zeitungsstrips, „Archie“-Comics und solche Sachen. Ich bin ja im ländlichen Kanada aufgewachsen, da war die Auswahl nicht besonders groß. Es gab keine Comic-Shops oder Ähnliches. Meine allererste Graphic Novel habe ich erst im letzten Jahr an der Universität gelesen. Die Unibibliothek hatte eine sehr kleine Abteilung mit vielleicht zehn Comicbüchern. Ich weiß noch, dass ich dort „I never liked you“ von Chester Brown entdeckt habe. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Kurze Zeit später – ich hatte mir gerade meinen ersten eigenen Rechner angeschafft – habe ich die Welt der Webcomics für mich entdeckt und bin in dieser Online-Vielfalt schier versunken 2008, in meinem letzten Jahr in den Ölsanden, begann ich, meine ersten eigenen Online-Comics zu veröffentlichen und traf die Entscheidung, Comiczeichnerin zu werden. Seitdem habe ich nicht mehr zurückgeblickt. Aber muss auch dazu sagen, dass ich natürlich riesiges Glück gehabt habe und mich schnell etablieren konnte.
Du sprichst über deine preisgekrönte Stripreihe „Hark! A Vagrant“. Magst du uns etwas über deine Anfänge als Cartoonistin erzählen? Inwieweit wurden deine frühen Comics und insbesondere dein Humor durch deine Zeit in den Ölsanden und deine Erfahrungen in Alberta geprägt? Waren Comics damals eine Art Flucht vor der Isolation in den Arbeits-Camps?
In meinem zweiten Jahr auf den Ölsandfeldern habe ich in einem Camp mit Internetzugang gearbeitet. Mir stand sogar ein Scanner zur Verfügung, weil ich damals einen Bürojob hatte. In meinem ersten Jahr in Alberta hatte ich weder Internet noch eine andere Möglichkeit, mit Comics zu arbeiten. So konnte ich nachts auf meinem Zimmer in die Online-Comic-Community eintauchen, die neuen Webcomics lesen, die täglich aktualisiert wurden und natürlich auch meine eigenen Comics zeichnen und sie tagsüber auf der Arbeit einscannen. Das hat mir sehr viel gegeben. Ich glaube, ich habe mich in vielerlei Hinsicht darauf gestürzt, weil es alles war, was ich hatte.
Könntest du uns auch ein wenig über den Ursprung von „Ducks“ erzählen? Wann und warum hast du angefangen, Comics über deine Zeit in Alberta zu zeichnen?
Den Anfang nahm das Projekt so um 2014 herum. Ich hatte damals einige wenige, sehr raue Seiten auf Tumblr veröffentlicht. Ich wollte nur mal in das Thema reinschnuppern, ein bisschen rumprobieren und schauen, wie meine Leser*innen auf die Seiten reagieren. Und ich wollte sehen, ob auch andere Menschen, die in Alberta gearbeitet haben, meine Comics als ehrliches Spiegelbild ihrer dortigen Zeit empfinden konnten. Als ich nach und nach merkte, dass die Menschen sehr positiv auf meine Erzählung reagierten, hatte ich das Gefühl, dass ich hier das Potential für ein eigenes Buch hatte. 2016 begann ich mit der Arbeit an „Ducks“, aber ich musste mehrere Pausen einlegen, ich heiratete, bekam Kinder und habe meine Schwester an den Krebs verloren. Meine Verleger waren verständnisvoll und sehr geduldig mit mir. Ich habe mich dafür entschieden, nur Dialoge und keine Textkästchen zu verwenden, weil ich meinen Leser*innen nicht vorschreiben wollte, was sie zu denken haben. Und ich wollte in der Erzählung nicht zwischen meiner Innenwelt und dem äußeren Plot hin- und herwechseln. Die Leser*innen sollten so tief wie möglich in die Geschichte eintauchen und irgendwann das Gefühl entwickeln, wie es ist, dort zu sein.
„Ducks“ beginnt mit einer Einführung in die Geschichte deiner Heimatregion, Cape Breton, wo du mit deiner Familie lebst. Könnest du uns etwas über die Insel und die Provinz Nova Scotia erzählen? Welche Rolle spielt die Region in der Geschichte der Arbeitsmigration in Kanada, und wie hat sich die Gegend in den letzten Jahrzehnten mit dem Ölboom (und seinem Niedergang) verändert?
Meine Region, Cape Breton Island an der Ostküste Kanadas, ist sehr schön und sehr ländlich, mit Ausnahme des industriellen Zentrums, das von Kohleabbau und Stahlindustrie geprägt ist. Seit vielen Generationen befindet sich die Wirtschaft in dieser Region im Niedergang, und wir verzeichnen eine stetige Abwanderung von Arbeitskräften. Dieses Gefühl des Verlusts der Heimat und des Ortes, weil wir auf der Suche nach Arbeit auswandern müssen, hat sich tief in unsere Identität, unsere Kultur, unsere Literatur, unsere Musik und unseren Humor eingegraben. Oft gehen ganze Jahrgänge von Männern gemeinsam dorthin, wo gerade Arbeit gesucht wird. Zu Zeiten meiner Großeltern waren es die Neuenglandstaaten um Boston herum. Zur Zeit meiner Eltern waren es die Autofabriken im Süden Ontarios. Und zu meiner Zeit waren es die Ölsandfelder von Alberta. Aber die Ölsandindustrie war anders, weil es dort um viel Geld ging, und weil die Arbeiter in Camps lebten, die sie für lange Zeit von ihren Familien trennten.
Kannst du dich daran erinnern, wie viel du über die Ölindustrie und das Leben in den Arbeitscamps in Alberta wusstest, bevor du dich entschieden hast, dorthin zu gehen? Was waren die einschneidendsten Eindrücke in deiner ersten Zeit auf den Ölsandfeldern?
Ich wusste fast nichts, außer dass es dort Arbeit gab und niemand gerne dorthin ging, aber sie gingen trotzdem. Dass man es zu etwas bringen kann, wenn man sich anstrengt und nicht in Schwierigkeiten gerät. Im Grunde war ich auf nichts vorbereitet, denn die Leute sprachen nicht offen über die Einsamkeit, die Isolation, die Gewalt und all die schlimmen Dinge, die damit verbunden waren. Das ist etwas, was man hier einfach nicht macht. Man ging fort zum Arbeiten und beschwerte sich nicht.
Könntest du uns ein wenig über deinen Arbeitsprozess erzählen? Hast du aus deinem Gedächtnis heraus geskriptet oder hattest du Tagebücher und andere Aufzeichnungen aus dieser Zeit? Wie hast du entschiedenen, welche Erinnerungen in deine Geschichte passen?
Ich habe ein Jahr gebraucht, um das Skript für „Ducks“ zu schreiben, bevor ich mit dem Zeichnen loslegen konnte. Dafür habe ich mich bei all meinen Erinnerungen an die Zeit bedient, aber auch bei E-Mails, die ich damals geschrieben hatte, bei SMS-Nachrichten und Chatverläufen, ich habe Fotos und Zeitungsartikel aus der Zeit zur Hand… Und vor allem sprach ich mit Menschen, mit denen ich damals zusammengearbeitet habe – am stärksten stützte ich mich auf meine Freundin Lindsay Bird, die mehrere Jahre mit mir in Alberta gearbeitet hat und auch als Figur in „Ducks“ auftritt. Sie hat mir geholfen, meine Erinnerungen an die Zeit in den Camps zu überprüfen und mich oft korrigiert. Und dann habe ich alles, was im Netz über die Ölsand-Industrie auffindbar ist, recherchiert und aus all diesen Puzzleteilen die Welt von „Ducks“ zusammengebaut.
Eines der Themen, die du in „Ducks“ behandelst, ist die grassierende und erschütternde Frauenfeindlichkeit in der Branche. Hast du eine Erklärung dafür, warum Orte wie die Ölsand-Camps diese allgemeine Kultur des Chauvinismus und der sexualisierten Gewalt befördern?
Ich habe keine Antwort darauf, warum Männer tun, was sie tun. Ich weiß nur, dass Orte wie die Workcamps und Arbeitsplätze in den Ölsanden, stark geschlechtsspezifisch geprägt, isoliert und von der Gesellschaft entfernt sind und von Unternehmensinteressen kontrolliert werden. Es sind Orte, die Menschen resozialisieren. Es ist schwer zu sagen, auf welche Weise sie auf einen einwirken werden, wenn man sie betritt, weil man noch nie an einem solchen Ort war. Aber nein, ich weiß es nicht. „Ducks“ ist mein Augenzeugenbericht und meine Dokumentation dieser Zustände, aber eine Erklärung kann und will ich nicht liefern.
„Ducks“ wurde in Kanada und den USA im vergangenen Jahr begeistert aufgenommen. Ein Highlight dabei war sicherlich die Erwähnung des Buchs in der Top-10-Bücherliste von Ex-Präsident Obama…
Das war wirklich überraschend, um nicht zu sagen surreal. Eine schräge Vorstellung, dass Barack Obama irgendwo in seinem Haus in seinem Ohrensessel sitzt und mein Buch liest… Das kann ich immer noch nicht glauben! Er hat bestimmt sehr schöne Sitzgelegenheiten…
Zusammen mit „Ducks“ wird Reprodukt eine deutsche Ausgabe deines Kinderbuches „Die Prinzessin und das Pony“ herausbringen. Kannst du uns etwas über die Entstehung dieses Buches erzählen? Und wie stark warst du in in die Zeichentrickserien-Adaption bei Apple+ eingebunden?
Als Scholastic an mich herantrat, um ein Kinderbuch zu machen, war meine Antwort: „Ja, unbedingt!“ Ich wusste sofort, dass das erste Buch von einem Pony handeln würde. Ich hatte das Pony jahrelang gezeichnet – es war ein heimlicher Fan-Favorit. Meine Comicstrips waren eigentlich nicht für Kinder gedacht, aber das Pony hat irgendwie trotzdem Kinderherzen erobert. Es war also schon immer klar, dass es irgendwann ein eigenes Buch kriegen würde.
Ich habe es geliebt, an der Zeichentrickserie mitzuwirken. Ich war ausführende Produzentin, habe ein wenig am Design gearbeitet, das Drehbuch geschrieben, der Produktion als Beraterin zur Seite gestanden und war während des gesamten Prozesses dabei, aber es war eine große Teamleistung mit so vielen Stars am Ruder wie Stephanie Kaliner, der Showrunnerin, oder Wayne Michael Lee, dem Regisseur. Sie waren alle großartig.
Kate Beaton: Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden • Aus dem Englischen von Jan Dinter • Reprodukt/Zwerchfell, Berlin/Stuttgart 2023 • 448 Seiten • Hardcover • 39,80 Euro