Gut möglich, dass der Mann so etwas war wie die Personifizierung des amerikanischen Traums: Angefangen hat er seine künstlerische Laufbahn beim Verlag Timely Comics, einer kleinen Klitsche, die ihren Umsatz mit den beliebten bunten Schmuddelheftchen machte, denen von konservativer Seite lange ein schlechter Einfluss auf Kinder und Jugendliche nachgesagt wurde.
Bei Timely war der junge Stan Lee als Laufbursche tätig und als einer, der anderen die Zeichentische sauber machte. Am Ende war er jemand, der ein Imperium erschaffen hatte. Zahlreiche Figuren der zeitgenössischen Popkultur hat er miterfunden: Neben Spider-Man („The Amazing Spider-Man“) beispielsweise den unglaublichen Hulk und die X-Men.
In den 60er Jahren hatte er es schließlich zum Chefredakteur von Timely Comics gebracht. Das Unternehmen sollte kurze Zeit später den neuen Namen Marvel bekommen, unter dem es bis heute international bekannt ist. Dort inspirierte er als Redakteur gemeinsam mit Jack Kirby und (dem ebenfalls dieses Jahr verstorbenen) Steve Ditko, die beide als kreative Zeichner mindestens ebenso viel Anteil am Schaffensprozess hatten wie Lee selbst, die Entstehung zahlreicher Figuren: den bereits genannten Spiderman, die Fantastischen Vier, Thor oder den Silver Surfer. Im Gegensatz zu den strahlenden, porentief sauberen Helden des großen Konkurrenten DC Comics (Superman, Wonder Woman) waren es bei Marvel eher gebrochene Helden, die entwickelt wurden. Normalbürger, nicht selten Außenseiter, Verlierertypen oder komische Kauze, die unfreiwillig zu ihren sonderbaren Kräften gekommen waren. Und die obendrein – im Gegensatz zu den edlen, aber langweiligeren DC-Helden – Humor hatten. Auch Gesellschaftskritik und soziale Fragen hielten unter der Führung von Lee Einzug in die Publikationen. Sein Comic-Held Black Panther war der erste schwarze Superheld auf dem US-Comicmarkt, der ja nicht frei von rassistischen Stereotypen war. Was einst als anspruchslose billige Trivialkultur verunglimpft wurde, wird heute als Bestandteil der Geschichte der modernen Kunst betrachtet.
In den 80er Jahren unternahm Lee Versuche, Film und Fernsehen für seine Schöpfungen zu interessieren, anfangs mit wenig Erfolg. Dieser setzte erst mit den nach der Jahrtausendwende entstehenden Verfilmungen der Marvel-Comics fürs Kino ein. 2009 wurde der Medienkonzern Marvel von der Walt Disney Company aufgekauft.
In den meisten der Marvel-Filme, von den „Spider-Man“– bis zu den „Deadpool“– und „Ant-Man“-Filmen, hatte Stan Lee einen kurzen Gastauftritt, etwa als Spaziergänger oder Postbote, was als kleines Bonbon für die Fans verstanden werden musste und als Hommage an einen der letzten noch lebenden Miterfinder eines Comic-Universums, das die Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich prägt.
Im vergangenen Jahr verstarb Stan Lees Ehefrau Joan, mit der er 70 Jahre verheiratet war. Am Montag ist nun er selbst im Alter von 95 Jahren in Los Angeles gestorben. Die BBC meldete gestern, dass über der Küste Irlands extrem helle Lichterscheinungen und sich sehr schnell bewegende unbekannte Flugobjekte beobachtet wurden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass unsere außerirdischen Freunde so Stan Lee die letzte Ehre erweisen wollten.
Dieser Artikel erschien zuerst am 13.11.2018 in Neues Deutschland.
Thomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet seit 1999 als freier Autor für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u. a. Konkret, Berliner Zeitung, Stadtrevue Köln). Von 1999 bis 2011 war er in der Redaktion der linken Wochenzeitung Jungle World tätig. Seit 2013 ist er Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung Neues Deutschland.