Spanische Comics sind auf dem deutschen Markt kaum präsent. Das war nicht immer so: Etwas ältere Leser, die schon in den Achtzigern dabei waren, erinnern sich gern an das Chaoten-Duo „Clever & Smart“, an Antonio Hernandez Palacios’ Ritter-Serie „El Cid“ oder an die todschick gezeichneten, retrofuturistischen „Rocco Vargas“-Abenteuer von Daniel Torres. Danach ist der Faden ziemlich gerissen. Umso schöner daher, dass im Herbst 2012 gleich zwei ästhetisch wie zeitgeschichtlich relevante Graphic Novels iberischer Provenienz erschienen sind.
„Der Winter des Zeichners“ beginnt im Barcelona des Frühjahrs 1957. Der dort ansässige Verlag Bruguera dominiert mit seinen Publikationen die spanische Comic-Szene. Über eine Million Mal verkaufen sich jede Woche die Publikationen des strikt hierarchisch geführten Familienunternehmens. Alle wichtigen Zeichner arbeiten hier, und alle werden sie mit Knebelverträgen ausgebeutet. Sechs der besten begehren schließlich auf. Um die Rechte an ihren Werken nicht länger abtreten zu müssen und sich endlich an ein erwachsenes Publikum richten zu können, gründen sie Tio Vivo, ihr eigenes Magazin. Aber schon nach einem Jahr müssen sie aufgeben, weil sie der übermächtigen Konkurrenz von Bruguera nicht gewachsen sind.So ist das alles damals tatsächlich passiert, und zugegeben: Es klingt auf Anhieb nicht besonders spannend. Aber „Der Winter des Zeichners“ ist keineswegs nur etwas für Leser mit ausgeprägtem comicgeschichtlichem Interesse. Am sehr speziellen Einzelfall gelingt es Paco Roca, die erstickende Atmosphäre, die während der Hochzeit des Franquismus allgemein herrschte, zu schildern.
Die Brüder Bruguera und ihr Programmleiter Rafael Gonzalez praktizieren einen Paternalismus, der auch vor emotionaler Erpressung der Angestellten nicht zurückschreckt: Alle haben gefälligst eine große, glückliche Familie zu sein! Dennoch gibt es keine klaren Fronten zwischen Gut und Böse. Jeder lebt hier letztlich in Angst, sowohl vor politischer Repression als auch vor dem Sturz in die Armut. Gerade der bissige Gonzalez ist im Grunde eine tragische Figur: Als Journalist hat er einst gegen Franco gekämpft; nach der Rückkehr aus dem französischen Exil muss er sich unauffällig verhalten und all seine Schriftstellerträume begraben.
Paco Roca erzählt nicht chronologisch, sondern kontrastiert geschickt Szenen, die den Ausbruch der Zeichner schildern, mit deren ernüchterter Rückkehr zu Bruguera. In der Gestaltung der Seiten ist das Vorbild filmischer Verfahren spürbar. Durch die Verwendung von Split-Panels verleiht Roca Statischem eine Dynamik, während er umgekehrt lange Gesprächsszenen gern in mehreren detailreichen Panels aus demselben Blickwinkel zeigt – sozusagen mit „statischer Kamera“.
Während „Der Winter des Zeichners“ in satten, jahreszeitlichen Farben gehalten ist, gibt es in „Die Kunst zu fliegen“ nur ein sprödes, mit Grautönen versehenes Schwarzweiß. Die Graphic Novel beruht auf den ausführlichen autobiografischen Aufzeichnungen, die dem 1952 geborenen Schriftsteller Antonio Altarriba, von seinem Vater, der ebenfalls Antonio hieß, hinterlassen wurden. Anfang und Ende des erschütternden Bandes bildet der Selbstmord von Antonio Senior, der sich als 91-Jähriger im Jahr 2001, von schweren Depressionen geplagt, aus einem Fenster im vierten Stock seines von ihm gehassten Altenheims stürzte.Zwischen diesen Eckmarken liegt die Schilderung eines durch äußere Umstände verpfuschten Lebens. Als Sohn eines brutalen Bauern in der tiefen Provinz geboren, kennt der junge Antonio nur ein Ziel: die Stadt Saragossa. Mit Mühe und Not hält er sich hier über Wasser, als der Bürgerkrieg ausbricht. Von den Idealen des Anarchismus entflammt, desertiert Antonio und schließt sich den republikanischen Truppen an. Bei deren Niederlage flieht er nach Frankreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er nach Spanien zurück, verstrickt sich widerwillig in eine bürgerliche Existenz und dubiose Geschäfte, bis er als alter Mann einsam, arm und verbittert dasteht.
Antonios Leidenschaft für das Autofahren und seine Fantasien vom Fliegen sind die Leitmotive der Graphic Novel. Die unbegrenzte Mobilität, die Flucht ins Blaue stehen für den unerfüllbaren Traum von einer besseren Welt ohne Klassenschranken, ohne Faschismus und autoritären Katholizismus, ohne eklige Doppelmoral. Die Zeichnungen von Kim, einem Veteranen der spanischen Underground-Comics, stellen sich ganz in den Dienst des Erzählten. Sie sind mitunter nicht frei von handwerklichen Schwächen – dies gilt vor allem für die hölzern wirkenden Sexszenen –, zeugen immer wieder aber auch von einem Blick für das sprechende Detail und von der Fähigkeit, pointiert-lakonisch Krieg und Elend darzustellen.
„Die Politik erfasste den Alltag, der Alltag wurde für uns Geschichte, und die Geschichte erschwerte das Leben“, heißt es an einer Stelle in „Die Kunst zu fliegen“. Was dieser schlichte Satz bedeuten kann – das machen Altarriba und Kim uns immer noch unbeschwerten Nachgeborenen in ebenso bedrückender wie künstlerisch überzeugender Weise deutlich.
Dieser Text erschien zuerst am 10.11.2012 in der taz.
Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel und die Passauer Neue Presse.