Coolness im Leerlauf – „Polar“

© Netflix

Die Story ist ein Genre-Standard: Der ins Alter gekommene Profi-Killer Duncan Vizla (Mads Mikkelsen) steht kurz vor seiner Pensionierung und sehnt eigentlich nur noch den Millionen in seiner Pensionskasse entgegen. Einen einzigen Auftrag für die „Firma“ soll er noch erledigen – dieser stellt sich jedoch als Falle heraus, aus der sich der Vollprofi in Sachen Tötungshandwerk allerdings geschickt herauslaviert. Fortan gilt er für die Firma als Belastungsfall – und auch, weil die zur Seite gelegten Millionen nach einem vorzeitigen Ableben an die Firma zurückfallen, hat diese ein handfestes Interesse daran, Vizla möglichst vorzeitig ins Jenseits zu befördern. Eine Garde junger Killer nimmt den Kampf auf – ohne allerdings die Rechnung mit Vizla gemacht zu haben, der auch aus dem schlimmsten Folterkeller noch einen Weg zurück an die frische Luft findet.

Polar – was in diesem Zusammenhang nicht auf eisige Temperaturen, sondern auf die Tradition des spezifisch französischen, eben Polar genannten Thrillers verweist – basiert auf Victor Santos’ gleichnamigem, insbesondere in den ersten Staffeln lose an Frank Millers „Sin City“-Zyklus erinnernden Web-Comic. Aber auch aus der Feder Jean-Patrick Manchettes, des Meisters des Neo-Polar-Romans, könnte man sich diese hartgesottene Geschichte ziemlich gut vorstellen. Wer nun allerdings schon einen schön lakonischen Film wie von Jean-Pierre Melville oder Johnnie To vor dem geistigen Auge vorbeiziehen sieht, wird enttäuscht: Denn leider Gottes war es dann doch bloß der schwedische Regisseur Jonas Åkerlund, ein Fachmann für ADHS-Grobheiten, der diese Geschichte um Professionalismus, Dekadenz und Verrat in seinen filmischen Kosmos aufgehen lässt. Dieser ist seit seinem Skandalvideo für „Smack My Bitch Up“ von The Prodigy (1997) und seinem Spielfilmdebüt „Spun“ (2001) mit dem Begriff „Pop-Vulgarianism“ ganz gut beschrieben.

© Netflix

Heißt: Åkerlund ballert ein Feuerwerk der ausgestellten Derbheiten ab, als wären die 90er nie vergangen. Dabei gibt es gute Gründe dafür, dass man seinerzeit gefeierte Post-Tarantino-Dekadenz-Exzesse wie „Dobermann“ (1997) und „Der blutige Pfad Gottes“ (1999) heutzutage niemandem mehr ernsthaft anbieten kann. Was sich damals unter den Eindrücken des „Endes der Geschichte“ (Francis Fukuyama) als zeichenhafter, ironisch gebrochener Violent Chic noch gut goutieren ließ, hat mit der Zäsur von 9/11 und den Folgen erheblich an Reiz und Unbekümmertheit verloren.

Åkerlund aber dreht die Farbpegel allesamt grenz-obszön nach oben und suhlt sich fröhlich in grellen Pop-Pulp-Geschmacklosigkeiten: Johnny Knoxville kriegt im Auftakt-Cameo von einer Swimming-Pool-Bitch einen geblasen und währenddessen eine Kugel durch den Brustkorb gejagt (dass im Moment des Dahinscheidens auch der Ständer einklappt, darauf weist die Großaufnahme dezent hin), die Killer-Crew richtet einen brachial fetten Kerl blutig hin, aus dessen perforiertem Wanst unter brodelndem Gurgeln noch ordentlich Methan entweichen darf, besonderer Aufwand wird betrieben, um den großen Gegenspieler, Mr. Blut (Matt Lucas), als körperlich irrsinnig abstoßend zu zeichnen. Allerlei Ausflüge ins Junkie-Elend verstehen sich von selbst, eine genüsslich ausgewalzte Folterszene trägt dazu bei, Mads Mikkelsens Signatur – irgendwas mit seinem Auge ist ja bekanntlich immer – zu etablieren, und wenn sich Mikkelsen mit Laser-Vorrichtung an der Hand zum postmodernen Django-Wiedergänger mausert, jauchzt jener Teil des Publikums mit pubertären Allmachtsfantasien ganz besonders auf. Dazu auf der Tonspur: Betont urban und heutig klingen wollende Musik, die es beim “klingen wollen” allerdings auch schon belässt.

Auf dem Fantasy Filmfest im Jahr 2000 wäre „Polar“ sicher ein heißer Kandidat für den Publikumspreis gewesen. Heutzutage aber wirkt der Film mit seiner völlig entleerten Devianz-Parade einfach nur ungut aus der Zeit gefallen – ähnlich wie ein peinlicher Onkel, der mit staubigen Coolness-Strategien um die Sympathie der Jugend heischt. Weder schafft es Åkerlund dem lakonischen Pathos der Geschichte gerecht zu werden, noch entsteht so etwas wie Spannung: „Polar“ spult sein Programm altbekannter, etablierter Mechanismen einfach nur noch einmal ab – und erzielt damit vor allem Leerlauf. Die zynische Lust an der Gewalt ist zur hohlen Geste verkommen, der Pop-Vulgarianism seit Jahren tot und „Polar“ nichts weiter als ein unproduktiv irrlichternder Spät-Ausläufer.

Wie man es besser macht, wie man aus heutiger Perspektive ein Verhältnis zu dieser Spielart des 90er-Kinos aufbaut, hat Paul Schrader vor wenigen Jahren mit „Dog Eat Dog“ deutlich besser und reizvoller vorgemacht.

Dieser Text erschien zuerst auf: kino-zeit.de

Polar
USA/Deutschland 2019

Regie: Jonas Åkerlund – Drehbuch: Jayson Rothwell – Kamera: Pär M. Ekberg – Darsteller: Mads Mikkelsen, Vanessa Hudgens, Katheryn Winnick, Matt Lucas – Musik: Deadmau5 – Schnitt: Doobie White – 118 Min – VoD & Streaming: 25.01.2019 – Verleih: Netflix

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.