Kein Sonntagsspaziergang – „Wild West“

Hart ist es, das Leben, das die 16jährige Martha Cannary fristet. Nachdem die Eltern früh versterben, verdingt sie sich im Bordell von Mr. Hicks, wobei sie großen Wert darauf legt, nur Dienstmädchen zu sein und nicht andere Arten der „Arbeit“ zu verrichten. Dabei schützt sie der bullige Buck Calahan vor allerlei Avancen, und als sich der schmierige Lou Cooper an Martha vergreift, macht Calahan kurzen Prozess und erschießt den Fiesling. Während Hicks mit dem Eisenbahnbauer Graham im Clinch liegt, der das eiserne Pferd bis kurz vor die Stadt bringt, pflegt Calahan Martha gesund, die sich alsbald mit einem neuen Dauergast im Hotel anfreundet: Bill Hickock, den man aufgrund seiner angeblichen Heldentaten im Krieg „Wild Bill“ nennt, schärft ihr ein, dass in Amerika Werte wie Ehre und Freiheit doch eigentlich großgeschrieben sein sollten.

Thierry Gloris (Autor), Jacques Lamontagne (Zeichner): „WIld West Bd. 1“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 56 Seiten. 15 Euro

Das sieht Marthas Chef Hicks indessen anders. Er präsentiert seiner entsetzten Angestellten eine horrende „Rechnung“ für den Verdienstausfall und die Beseitigung der Leiche ihres Angreifers. Martha hat keine Wahl, als ihre Skrupel im Laudanum zu ertränken und ihre Schulden auf die einzige Art abzuzahlen, die ihr bleibt, auch wenn Hicks und Calahan sie zunehmend misshandeln. Hickock beobachtet das Treiben zutiefst missbilligend und schenkt Martha für alle Fälle schon mal einen Colt. Als Martha zufällig beim Arzt eine seltsame Figur entdeckt, die ihrem totgeglaubten Peiniger Cooper verdächtig ähnelt, nimmt ihr Leben die entscheidende Wendung: Sie bittet Wild Bill um Hilfe und zieht radikal gegen ihre Ausbeuter ins Felde.

„Die Eroberung des wilden Westens ist kein Sonntagsspaziergang“. Unter diesem Motto legen Thierry Gloris (u. a. „Malgré Nous“ und „Pik As“) und Jacques Lamontagne („Die Druiden“, „Van Helsing vs. Jack the Ripper“) einen düsteren Gegenentwurf zu den munteren Western aus dem Nachmittagsprogramm vor. Nicht ganz so dreckig, aber im Ton mindestens ebenso fies wie die einzig wahre Westernserie „Deadwood“ (in der bezeichnenderweise die historische Figur der „Calamity Jane“ genannten Martha Jane Cannary Burke, die 1903 dort starb, ebenso auftrat), erscheint die Landnahme als ein einziger Akt der Willkür, in dem das Recht des Stärkeren gilt und Werte wie Loyalität und Ehre hinter Profitgier und Rücksichtslosigkeit verschwinden. Da schneidet der Puffbetreiber Hicks einem Konkurrenten die Zunge ab, ohne einmal darüber nachzudenken, da erschießen Wegelagerer ganze Familien hinterrücks, und am Spieltisch der Spelunken sitzt das sprichwörtliche Ass im Ärmel der Falschspieler.

Selbst der vermeintliche Retter von Martha entpuppt sich als übler Drahtzieher ihres Schicksals, der mit Hicks paktiert, um ein neues Mädchen für seine Zwecke zu „engagieren“. Der wilde, ehrenhafte Bill wirkt da fast schon anachronistisch und passt mit seinem Job als Kopfgeldjäger dann doch wieder ins Bild. Historische Elemente, wie Janes Bekanntschaft mit Wild Bill, ihre Durchsetzungskraft als Frontierswoman und ihre spätere Beteiligung an Buffalo Bills Zirkusshows streift Gloris dabei nur, dem es mehr um die Charakterisierung seiner Titelfigur geht. Lamontagne inszeniert das Geschehen klassisch, mit teilweise elegischen Landschaftsbildern à la „Blueberry“, die in den Szenen des Eisenbahnbaus auch an die Western-Epen eines Sergio Leone erinnern. Auch vor deftiger Erotik und heftiger Gewalt schreckt Lamontagne dabei nicht zurück, was sich allerdings bestens in den gewählten Rahmen einfügt. Wer es lustiger mag, kann ja noch mal in den „Lucky Luke“-Band schauen, in dem unser Cowboy mit Jane zusammenrumpelt.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Seite aus „Wild West“ Band 1 (Splitter Verlag)