Hegemoniekämpfe – „Ticonderoga“

Eine wunderschöne Edition macht ein Frühwerk des italienischen Comic-Genies Hugo Pratt (1927-1995) wieder zugängig: „Ticonderoga“, eine Serie, die Pratt in seiner argentinischen Zeit zusammen mit dem nicht minder genialen Szenaristen Héctor Gérman Oesterheld (der mit Alberto Breccia den Jahrhundertcomic „Eternauta“ erfunden hatte) entwickelt hat und die in den Jahren 1957 bis 1959 Maßstäbe für das Subgenre „Abenteuer/Western“-Comic gesetzt hat.

Hector G. Oesterheld (Autor), Hugo Pratt (Zeichner): „Ticonderoga“.
Avant Verlag, Berlin 2019. 304 Seiten. 50 Euro

„Ticonderoga“ spielt in den Jahren 1755 ff., also zur Zeit des britisch-französischen Konflikts um die nordamerikanischen Kolonien in Kanada und rund um die Großen Seen. Ein Konflikt, den man später auch gerne im Zusammenhang des Siebenjährigen Kriegs interpretierte, bei dem es ja nicht nur um Preußen vs. Österreich ging, sondern eben auch um die globale, kolonialistische Hegemonie (Indien, Karibik), die zwischen England und Frankreich ausgekämpft wurde. Das ist klassischer James-Fenimore-Cooper-Stoff, und die Bildwelten, die Pratt schuf, scheinen später besonders vor allem wieder in Michael Manns Verfilmung des „Letzten Mohikaners“ wieder auf.

Joe „Ticonderoga“ Flint, der britische Kadett Caleb Lee und der geheimnisvolle Numokh bilden ein Jungs-Trio, das sich unverdrossen durch die Kriegswirren schlägt, in denen Koalitionen und Loyalitäten schnell wechseln, aber auch Begriffe wie Ehre, Stolz und Freundschaft einen hohen Wert haben. Die indigenen Völker der Gegend werden von beiden Kolonialmächten in den Konflikt hineingezogen und funktionalisiert, das konstatiert der Comic immer wieder und durchaus nicht unkritisch. Und er thematisiert offen die „asymmetrische“ Kriegsführung (besonders die Episode: „Der Veteran“), der die europäisch ausgebildeten Truppen hilflos gegenüberstanden, eine Erfahrung, die einerseits den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg denkbar werden ließ (ein gewisser Colonel Washington treibt sich hin und wieder in der Handlung rum) und andererseits eine Echo der Entkolonialisierungskonflikte nach dem 2. Weltkrieg reflektiert. Das ist durchaus plausibel, weil die Szenarien von Héctor Gérman Oesterheld schon immer etwas gespenstisch Visionäres an sich hatten, siehe „Eternauta“ – er wurde dann später, 1970, von den Militärs ermordet, als er sich während der Diktatur dem Widerstand angeschlossen hatte.

Spannend auch, Hugo Pratts Prä-Corto-Maltese-Arbeit zu beobachten, die Edition bietet erfreulich viel Material dazu an, Detailstudien, die zeigen, wie sehr er sich mit den historischen Kontexten beschäftigt hat, wobei seine Sympathien ganz klar auf Seiten der indigenen Kulturen lagen. Obwohl die Originalausgaben von scheußlicher Qualität waren (dazu gibt es hier einen wunderbaren Aufsatz von José Muñoz, einem anderen Großen der argentinischen Comic-Szene) und der Avant-Verlag die Schwierigkeiten einer verworrenen Editionsgeschichte diskutiert, kann man das künstlerische Format seiner s/w-Bilder leicht erkennen, auch wenn die Echos von Großguru Alberto Breccia noch deutlich zu erkennen sind. Aber vor allem funktionieren die Geschichten, die erzählt werden, noch immer sehr gut. Action, Dramatik, Tragik, Spannung, Natur – all das bietet „Ticonderoga“ galore. Jungslektüre? Mir doch egal, großartig auf jeden Fall.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Ticonderoga“.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.10.2019 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „Ticonderoga“ (Avant-Verlag)