Scheu sitzt Kabi Nagata bei einer Prostituierten. Mit Ende 20 traut sie sich immer noch nicht, sich einzugestehen, dass sie lesbisch ist. Die erste Szene im Sex-Hotel beinhaltet schon das ganze Leid von Kabi Nagata: Während die Prostituierte mit dem Finger über ihren Körper streicht, rasen Gedanken durch ihren Kopf – weil ihre Haut übersät ist von Wunden, die sie sich selbst zugefügt hat, weil sie nicht weiß, wie danach die Geldübergabe funktioniert, und weil sie bemerkt, dass hier überhaupt keine Erotik in der Luft hängt.
Kabi Nagata: „Was das Sexuelle angeht, so gleichen meine Erfahrungen denen eines Neugeborenen.“

Kabi Nagata (Autorin und Zeichnerin): „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“.
Aus dem Japanischen von Gravert-Stutterheim Nadja. Carlsen, Hamburg 2019. 144 Seiten. 15 Euro
„Der Chef hat die ganze Zeit gelächelt, obwohl er immer früh aufstehen muss und so beschäftigt ist. Die Unterhaltung mit ihm war so angenehm. Ich wurde nicht genommen.“
Kabi Nagata zeichnet all das mit einfachen schwarzen Strichen, knallpinken Akzenten und einem krachenden Humor, der geradezu befreiend ist. Weil sie trotz ihrer schrecklichen Geschichte nicht dem Selbstmitleid verfällt, sondern ihre absurde Situation immer wieder so überzeichnet, dass es komisch wird. Erfrischender wurde eine verhinderte Coming-out-Geschichte wohl noch nie erzählt.
Der Onkel aus Kanada
Genauso lustig und deutlich weniger tragisch kommt Gengoroh Tagames Manga „Der Mann meines Bruders“ (der in der Comic-Bestenliste des diesjährigen ersten Quartals den 1. Platz erhielt) daher. Es geht um den alleinerziehenden Yaichi und seine Tochter Kana. Die beiden bekommen plötzlich Besuch von Mike aus Kanada, dem Ehemann von Yaichis Zwillingsbruder. Denn weil der gestorben ist, möchte sich Mike auf die Spuren seines Mannes begeben. Ärgerlich ist, dass Yaichi seiner Tochter nie von seinem schwulen Bruder erzählt hat.
Kana: „Hurraaa! Ich habe einen Onkel aus Kanada!“

Gengoroh Tagame (Autor und Zeichner): „Der Mann meines Bruders“. Bislang 2 Bände.
Aus dem Japanischen von Sakura Ilgert. Carlsen, Hamburg 2019. Je 180 Seiten. Je 10 Euro
Yaichi: „Vielleicht kennt Mike eine Seite von Ryoji, die ich nicht kenne. Verdammt! Das wird irgendwie zu konkret. Den Gedanken will ich lieber nicht vertiefen.“
Neuer Zugang auf schwule Lebensweisen
Gengoroh Tagame ist eine Art japanischer Ralf König. Bislang hat er Pornos für die Schwulenszene gezeichnet. Mit „Der Mann meines Bruders“ begeistert er nun ein breites Publikum – weil er Charaktere entwickelt, die schamlos fragen und so einen neuen Zugang auf schwule Lebensweisen ermöglichen. Und weil Gengoroh Tagame deutlich herausarbeitet, wie die eigene Haltung die Wahrnehmung beeinflusst, und was in einem Menschen passiert, der nicht den Gepflogenheiten des Mainstreams folgt. Yaichi zum Beispiel antwortet auf die Frage eines Nachbarn, wer denn Mike sei: „Das ist ein Freund meines Bruders.“
Und das, obwohl er da schon einige Vorbehalte über Bord geworfen hat und anfängt, Mike zu mögen. So wie „Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit“ wurde auch „Der Mann meines Bruders“ in den USA ausgezeichnet – mit dem renommierten Eisner-Award. Beides zu Recht!
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Der Mann meines Bruders“.
Dieser Text erschien zuerst am 03.04.2019 in: Deutschlandfunk
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Der Mann meines Bruders, Band 1“ (Carlsen Manga)