Alan Moore hat aufgehört. Keine neuen Comics mehr vom wichtigsten englischsprachigen Szenaristen der Neunten Kunst. Mit Ausgabe sechs von „The League of Extraordinary Gentlemen: The Tempest“ (07/2019) ist endgültig Schluss.
Die US-amerikanische Comicbranche wird sich weiter an ihm abarbeiten. Derzeit stricken zahlreiche Autor_innen und Zeichner_innen – im Auftrag von börsennotierten Entertainment-Konzernen – Moores Stoffe zu endlosen Prequels und Sequels um. Gefragt hat danach kaum jemand. „Before Watchmen“ (2012), „Doomsday Clock“ (2017–), „The Terrifics“ und „JLA“ (beide 2018) heißen sie. Als Ideengeber ist der Autor so „in“ wie seit den späten 1980er Jahren nicht mehr, Moores Konzepte und Figuren haben offensichtlich Konjunktur. Vielleicht will er auch deshalb raus: „Yes, I did Watchmen“, sagt Moore 2016 im Vulture-Interview, „Yes, I did Marvelman [sic]. These are two big seminal superhero works, I guess. But remember: Both of them are critical of the idea of superheroes. They weren’t meant to be a reinvigoration of the genre.“
Moore tritt ab und entsorgt das eigene Werk gleich mit. Weil die Verantwortlichen im Mainstream-Comic ihn immer und immer wieder übers Ohr gehauen haben? Wahrscheinlich findet Moore in der gesamten anglo-amerikanischen Comicszene keine vertrauenswürdigen Sachwalter_innen, in deren Hände er sein Erbe legen kann, zumal er sich mit vielen seiner kreativen Partner_innen – David Lloyd, Dave Gibbons – überworfen hat. Kevin O’Neill, der Zeichner von „League“, geht mit seinem Szenaristen zusammen in den Ruhestand.
Zusammen wickeln Moore & O’Neill ihr Werk ab. Das gefeierte Team spekuliert am Ende nicht auf Beifall. Stattdessen demontieren die beiden Künstler das Comic-Universum, in dem sie die letzten 20 Jahre zusammen verbracht haben.Nach „Tempest“ gibt es nur noch verbrannte Erde, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In Ausgabe zwei legt James „Jimmy“ Bond – Geheimagent, Serienvergewaltiger und Massenmörder – die Blazing World in Schutt und Asche. Ein atomarer Schlag, und der Optimismus, die humanistischen Zwischentöne, von denen die Serie lange zehrte, sind hinweggefegt. Bis dahin war die Blazing World ein Rückzugsraum: Hierhin flohen ihre Besucher_innen aus der Wirklichkeit des Comics, vor Diskriminierung und Verfolgung. Der Preis, den sie dafür zahlten: Sie wurden zu fiktionalen Figuren, Wesen der Fantasie und Einbildungskraft.
Der Zauberer Prospero, Herrscher der Blazing World und Alan Moores Stellvertreter in der fiktiven Welt, deutet sogar an, dass auch die Leser_innen des Comics die Blazing World betreten könnten. Immerhin seien auch die Comic-Fans einst formlos gewesen, genauso wie die Figuren der Fantasie – als Wunsch ihrer Eltern, Zellhaufen im Mutterleib, ein unbeschriebenes Blatt, das erst im Laufe seiner Entwicklung eine eigene Persönlichkeit bekommt: „The very personality that scrys this epilogue was once unformed, assembled hastily from borrowed scraps, from traits admired in others, from ideals.“ Die bewunderten Anderen, das sind die Held_innen der Fantasie.
Der Enthusiasmus, mit dem Moore & O’Neill die Blazing World beschreiben, ist anrührend und ansteckend. Wer wollte nicht für einen Augenblick glauben, dass diese Religion der Vorstellungskraft ein echtes Heilsversprechen ist? Allein, in „Tempest“ entlarven Moore & O’Neill die Blazing World als eine falsche Kirche. Die Rückabwicklung des „League“-Kosmos ist unausweichlich.
Prospero – noch einmal: der Avatar Alan Moores in der Welt von „League“ – ist kein verschrobener Seelenretter, sondern ein kühl kalkulierender Kriegstreiber: Auf magische Weise spult er die zerstörerische Entladung von Jimmys Atombombe zurück, stellt die Blazing World wieder her und entsendet die indigene Bevölkerung, das militarisierte Feen-Volk der britischen Sage, als Kampftruppe in die Welt. Damit tragen sie die Apokalypse über den ganzen Globus. Am Ende war also alles ein abgekartetes Spiel.Prospero war niemals ein Erlöser der Menschen. Die Mitglieder der League waren niemals die Guten, keine Superheld_innen, sondern Schurk_innen, auch wenn manche von ihnen genauso hintergangen werden wie Moore & O’Neills Publikum. Auch die früheren „League“-Comics haben nach „Tempest“ ihre Unschuld verloren, denn die Hinweise auf den teuflischen Plan finden sich (angeblich) bereits in den Vorgänger-Comics, mindestens schon im „Black Dossier“. Was für eine grausame Wendung. Was für ein bitteres Ende für einen herausragenden Comic, den fortan niemand mehr mit unschuldigen Augen lesen kann.
Darum scheint es Moore & O’Neill zu gehen: Das Publikum seiner Unschuld zu berauben. Alan Moore ist immer schon ein wütender Autor gewesen, zumeist mit einer politischen Botschaft: „V for Vendetta“, „From Hell“, selbst seine schlechteren Arbeiten („The Killing Joke“) sind durchdrungen von einer überbordenden negativen Energie, einem grundsätzlichen Leiden an unserer wirklich schlechten Welt, selbst noch in den Happy Ends. War es immer schon naiv zu glauben, dass Moores spätere Comics („Supreme“, „America’s Best Comics“, allen voran „The League of Extraordinary Gentlemen“) ein reiner Spaß, pure Unterhaltung gewesen sein sollen?
„This be warning“, wie es im „Black Dossier“ heißt: Alan Moore ist gegangen und hat ein vergiftetes Geschenk, ein bitteres, ein böses Werk hinterlassen. Grund genug, wieder mehr Alan Moore zu lesen. Wir sollten uns nämlich auch daran erinnern, dass seine Comics unheimlich gut, oft sehr nobel und immer vollauf integer sind.
Jakob Kibala hat Kunstgeschichte und Bildende Kunst studiert. Sein Buch „Wissen und Erschließen“ über „The League of Extraordinary Gentlemen“ und „Batman & Son“ ist gerade im Ch. A. Bachmann Verlag erschienen. Auf Instagram bloggt er über die „X-Men“-Comics der 1990er Jahre.