Den eigenen Ausnahmezustand verschlafen

Die männlichen Helden in Frank Millers Bildwelten sind ambivalente Wanderer ihrer eigenen Gesetzesgrenzen, und meist nötigt sie ein äußerer Apparat dazu, diese notgedrungen zu lockern. Der faschistoide Batman aus „The Dark Knight Returns“ ist die altersmüde Antithese zum staatstreuen Superman; die Konflikte in „Sin City“ sind oftmals Folge der Übertretung eines Regelkanons, so krude er uns auch erscheinen mag. Selbst die abgründigsten Charaktere erlangen eine faszinierend-morbide Tiefe, wenn ihre Aktionen und Reaktionen zur moralischen Selbstpositionierung und deren Korrektur verdichtet werden. So diktieren es der Film Noir und seine Pulpvorlagen, deren Tradition sich Miller mit jedem Wort und Farbklecks verschrieben hat.

Hard Boiled“ wurde 1992 genau zwischen seiner Superheldendemontage und dem 13-bändigen Noir-Opus-Magnum beendet und liegt nun mit neuer Kolorierung von Dave Stewart („Hellboy“) in einer opulenten Gesamtausgabe vor. Die dreiteilige Miniserie ist reine, brachiale Essenz eines Konflikts, angetrieben von einem Plot, der so knapp ist, wie das Fassungsvermögen eines Fingerhuts: Zentriert ist diese permanente Massenschlacht, die eigentlich nur ein Zweikampf ist, um Nixon, den vermeintlichen Steuereintreiber, der eigentlich ein Cyborg ist. Der verfolgt sein Handwerk mit gnadenloser Rücksichtslosigkeit, die Kollateralschäden steigen bei seinen Einsätzen regelmäßig in den höheren mehrstelligen Bereich. Nach verrichteter Arbeit wird er wieder zusammengeflickt und bekommt dabei stets ein neues Programm installiert, das ihm ein idyllisches Familiendasein mit Frau und Kindern in den Suburbs vorgaukelt. Am nächsten Tag wird die Schlacht mit neuer Identität fortgesetzt. Diesmal wird sein Antlitz jedoch derart zerstört, dass seine Markenbezeichnung zum Vorschein kommt, und so bleibt der bisher skeptischen Einheit 4 nichts anderes übrig, als den Worten seines Gegners, einer sich in Verführungskünsten übenden Robotin, Glauben zu schenken: „Du bist ein Auftragsmörder. Du tötest die Konkurrenten der Firma Willefords Haushaltsmaschinen.“ Was folgt, ist ein vergeblicher Rachefeldzug von apokalyptischem Ausmaß.

Frank Miller (Text), Geof Darrow (Zeichnungen), Dave Stewart (Farben): „Hard Boiled“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Pannor. Cross Cult, Stuttgart 2018. 128 Seiten. 30 Euro

Auch wenn die Anklänge an den maschinellen Identitätsfragen eines Philip K. Dick anderes vermuten lassen, „Hard Boiled“ ist das gewaltfixierte Konzentrat seiner Pulp-Vorgänger und bleibt motivgeschichtlich deren Prämissen treu: Nixon aka Einheit 4 ist jener dem Metier so eigene, wenn auch pervertierte, Antiheld, der in der Krise über sich hinauswächst. Aber statt der Gewalt, die er ausübt, schockiert vielmehr die von ihr verursachte Reaktion, die im Prinzip ausbleibt. Millers Szenario beschreibt einen zukünftigen Moloch der völlig ad absurdum getriebenen Dekadenz, eine semiotisch gänzlich entleerte Welt, in der es gleichzeitig von Zeichen nur so wimmelt. AKW-Buttons, Peace-Logos, Hakenkreuze, Markennamen zieren gleichberechtigt die Kleidung der stoischen Menschen der überfüllten Großstadt, die phlegmatisch, fast schon bereitwillig als Kanonenfutter herhalten, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig in futuristischen Live-Sex-Shows mit Kettensägen tranchieren. Die Shopping Malls heißen Behemoth.

In einer moralisch degenerierten Welt kann auch das Zeichen nicht mehr als Platzhalter eines moralischen Heilsversprechens dienen. Man möchte meinen, dass die Bildsprache diese Funktionslosigkeit doppelt: Der konturstarke Strich Darrows ist eingebettet in einer vor Details strotzenden Welt, aber die Panels sind in starrer Bewegungslosigkeit gefangen. Dynamik erzeugt allenfalls ihre sequentielle Anordnung, aber auch die changiert zwischen den Stilen, als setzten sie die Auflösung aller Bedeutungen der vorgeführten Welt fort. Da wird die Zeit während einer Verfolgungsjagd im klassischen Mangastil gedehnt. Eine daran anschließende Schlägerei hingegen beansprucht plötzlich allein für eine Seite 22 Panels. Da offenbaren sich doppelseitige Panels in verdrehter Superheldenmanier als toxische, stumme Action- wie Suchbilder des Elends und Chaos, bevölkert von hunderten zerfetzten und brennenden Toten, aus denen dann zum Schluss ein nicht mehr zu identifizierender Nixon resigniert ruft: „Ich geb klein bei!“

„Hard Boiled“ beschreibt die zukünftige Welt als technoide Apokalypse, die vor Entfremdung und Dekadenz ihren eigenen Ausnahmezustand verschlafen hat. Für eine Satire mag Miller hier zu tief in seine Karten blicken lassen; als Groteske funktioniert das beeindruckende Zusammenspiel aus Form und Inhalt exzellent.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.10.2018 in: Der Tagesspiegel

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

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