„Heutzutage kann man sich Hunger nicht mehr vorstellen“

Der norwegische Comiczeichner Martin Ernstsen hat mit „Hunger“ einen der bekanntesten Romane der norwegischen Literaturgeschichte als Graphic Novel adaptiert. Anhand von Hamsuns Protagonisten untersucht Ernstsen die menschliche Psyche und verfolgt dessen Abgleiten in Wahnzustände angesichts seiner ausweglosen Situation. Es ist die Geschichte eines jungen, armen und hungrigen Schriftstellers in Kristiania. Norwegen ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse (16.-20. Oktober), Ernstsen wird als Ehrengast vor Ort sein. Wir präsentieren das Presse-Interview mit Martin Ernstsen mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Lieber Martin Ernstsen, Sie haben in Norwegen bereits mehrere Comicerzählungen veröffentlicht, „Hunger“ ist nun Ihre erste Literaturadaption. Wie kam es zu der Idee, einen Romanklassiker als Comic umzusetzen?
Ich bin schon seit langer Zeit ein Fan von Hamsuns Arbeiten, und ich wollte tatsächlich auch schon seit einiger Zeit eine Comic-Literaturadaption machen und war auf der Suche nach der passenden Vorlage. Dieses Projekt kam dann eher durch Zufall zustande. Ich hatte mich auf dem Comicfestival Angoulême mit einem Zeichnerkollegen unterhalten. Er sagte mir, dass er für eine Comicadaption von Hamsuns „Hunger“ angefragt worden sei, aber ablehnen müsse, weil er auf absehbare Zeit ausgebucht sei. Ich bin sofort aufgesprungen und habe Interesse bekundet. Ich hatte instinktiv das Gefühl, auf die perfekte literarische Vorlage für mich gestoßen zu sein. Er brachte mich mit dem Verleger in Kontakt, ich reichte einen 5-seitigen Pitch ein und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Ich war sehr aufgeregt, diese Chance zu bekommen. Zumal mir der norwegische Verlag komplette künstlerische Freiheit bei der Umsetzung ließ.

Knut Hamsun ist sicherlich einer der einflussreichsten Autoren Norwegens, wenn nicht sogar der einflussreichste. Gab es einen erhöhten Erwartungsdruck von außen, was das Projekt anbelangt? Wie ist Ihre eigene Beziehung zu Hamsun, seinem Werk und seiner schwierigen politischen Geschichte?
Ich war mir natürlich der großen Verantwortung bewusst, als ich mich an die Adaption machte. Und das war auch etwas, was mich tatsächlich ein wenig verunsicherte. Es gibt viele Menschen in Norwegen und sicherlich auch weltweit, denen das Buch viel bedeutet. Ich denke, dass alle Hamsun-Kenner eine bestimmte Vorstellung davon haben, wie eine Adaption des Stoffs auszusehen hätte und man kann als Comiczeichner nicht all diesen Vorstellungen gerecht werden. Ich entschied mich also, die Geschichte von „Hunger“ auf meine eigene Weise zu erzählen.

Martin Ernstsen (Autor und Zeichner): „Hunger“.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Avant-Verlag, Berlin 2019. 220 Seiten. 30 Euro

Eine Sache, die mir sehr am Herzen lag, war die detailgetreue Darstellung von Kristiania (Oslo) in der entsprechenden Zeitperiode. Ich vertiefte mich in die Archive und versuchte, die Stadt in meinen Zeichnungen so genau wie möglich zu rekonstruieren. Auf der anderen Seite nahm ich mir mit Hamsuns Werk aber auch viele Freiheiten, unter anderem in den deliriumvernebelten und subjektiven Passagen des Buchs. Ich hatte eine umfangreiche Biografie Hamsuns gelesen und mir wurde klar, wie viel von diesem Buch auf Hamsuns eigenen Erfahrungen basierte. Ich beschloss also, „Hunger“ mehr oder weniger wie eine Autobiographie zu behandeln. In den vier Jahren, in denen ich an diesem Buch arbeitete, entstand in mir eine tiefe Bindung zu Hamsuns Protagonisten. Ich geriet in finanzielle Not und ehe ich mich versah, begann ich meine eigenen Sachen zu veräußern, um die Miete zu bezahlen – genau wie Hamsuns Protagonist. Auf einmal wurde das Buch für mich allzu real.

Was Hamsuns politische Ansichten anbelangt, versuche ich den Menschen von seinem Werk getrennt zu betrachten. Für mich ist er ein literarisches Genie und gleichzeitig ein politischer Idiot. Ich kann seinen Bücher wertschätzen, abgekoppelt von seinen politischen Ansichten, nicht zuletzt, weil in seinem Werk Politik so gut wie nicht vorkommt.

Was muss man als als Erzähler beachten, wenn man einen Roman in ein anderes Medium, in dem Fall den Comic, adaptiert?
Mein Ziel war es, die Geschichte von Hamsuns Roman mit den Mitteln zu erzählen, über die nur das Medium Comic verfügt. Daher legte ich auch großen Wert auf den grafischen und zeichentechnischen Aspekt meiner Erzählung. Ich wollte, dass hinter jeder zeichnerischen Entscheidung, die ich traf, eine offensichtliche Funktion stand, die den erzählerischen Aspekt unterstützte. Eine große Schwierigkeit war die schiere Fülle des Ausgangsmaterials. Was davon sollte ich in meine Comicadaption integrieren, was rauslassen? Es tat regelrecht weh, Passagen rauszukürzen, weil die meisten Ereignisse im Roman untrennbar miteinander verwoben sind, und auch weil Hamsuns Prosa so herausragend ist. Das war ein regelrechtes „Kill-Your-Darlings“-Massaker, aber ich musste einfach den Stoff trimmen, damit er in Comicform organisch funktionierte. „Hunger“ ist eine fantastische Erzählung, und für einen Erzähler so eine Ausgangssituation ein seltenes Geschenk. Wenn ich meine eigenen Geschichten schreibe, dann plage ich mich oft mit Zweifeln rum. Ist das wirklich gut? Will ich das weiterverfolgen? Bei „Hunger“ hatte ich nicht diese Bedenken. Da konnte ich mich einfach reinknien und dem Buch alles geben, was in mir steckte.

Seite aus „Hunger“ (Avant-Verlag)

Hamsuns Roman hat eine herausfordernde, streckenweise surreale Struktur, wenn man den wirren Gedanken des Protagonisten folgt. War es eine große Herausforderung, diese „Stream-of-Conciousness“-Strecken umzusetzen? Wie sind Sie da vorgegangen?
Hamsuns „Hunger“ ist ein Paradebeispiel für einen Ich-Erzähler, dem der Leser nicht vertrauen kann. Geschieht das alles wirklich, was er beschreibt? Oder ist das alles nur Teil seiner Hungerwahnvorstellungen? Die Delirium-Passagen erreichten bisweilen surrealistische Höhepunkte. Diese Passagen sind es, die den Roman für mich so einzigartig machen, und es bereitete mir großen Spaß, mir gezeichnete Pendants dafür zu überlegen. Ich wollte diese Elemente in meinem Comic hervorheben, also habe ich mir eine putzige kleine „Ball-Figur“ ausgedacht, die als Personifikation seiner irrationalen Seite den Leser durch seine psychologische Entwicklung führt. Wenn sich der Protagonist in die knubbelnasige Cartoon-Figur verwandelt, dann hat er wieder die Kontrolle über sich selbst verloren, er wird zu einem „unzuverlässigen Erzähler“ und der Leser weiß nicht, woran er bei ihm ist.

Die Auswahl der Passagen, die Einzug in die Comicadaption gefunden haben, war ein langwieriger Prozess. Ich habe in der Storyboard-Phase die Geschichte immer wieder überarbeitet und Seiten rausgekürzt, sogar zwölf Seiten, die schon komplett gezeichnet waren. Und dann musste ich die anderen Seiten immer wieder überarbeiten, bis die Story perfekt saß. Manchmal hat es mich selbst überrascht, was funktionierte und was nicht, das musste ich jedes Mal aufs Neue sehen. Das erste Kapitel war besonders widerborstig und sorgte bei mir für Kopfschmerzen, aber das Buch wurde mit der Zeit immer besser und entwickelte sich immer organischer, auch weil ich diesen Destillationsprozess immer besser in den Griff bekam.

Seite aus „Hunger“ (Avant-Verlag)

Mit „Hunger“ hatte Knut Hamsun seinen Durchbruch als Schriftsteller. Seine neuartige Art zu schreiben beeinflusste auch international zahlreiche Jahrhundertautoren wie James Joyce. Seit dem Erscheinen von „Hunger“ sind über 100 Jahre vergangen. Welchen Stellenwert hat das Buch heute noch? Was bedeutet es für unsere Zeit?
Das Buch bildet etwas Zeitloses ab – den Kampf des Menschen nach Anerkennung, Erfolg und Liebe. Es erzählt von den psychischen Folgen von Trauma und persönlichen Krisen, etwas, das die meisten von uns zu einem gewissen Grad kennen werden. Auch dass Hamsuns Figuren eines denken und dann komplett gegenteilig handeln, ist etwas zutiefst Menschliches. Eine Dualität, die ich immer faszinierend fand…

In den meisten westlichen Ländern ist Hunger – der Gegenstand des Buchs – als kollektive Erfahrung kaum noch präsent. Glauben Sie, dass es schwierig ist, für den modernen Leser Hunger als extreme, lebensbedrohende Erfahrung zu vermitteln?
Die Welt hat sich seit dem Erscheinen von Hamsuns „Hunger“ derart gewandelt, dass es für uns „Abendländler“ kaum möglich ist, sich die extremen Lebensbedingungen, die Armut und den Hunger, die Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschten, vorzustellen. Mit meinem norwegischen Verleger gab es eingangs die Diskussion, ob man die Comicadaption in dem historischen Setting belässt oder die Handlung in einen neuzeitlichen Kontext versetzt. Das konnte ich mir aber nicht vorstellen. Die Handlung des Buchs in die Gegenwart zu versetzen, das wäre eine komplette andere Erzählung geworden. Der Protagonist von „Hunger“ isst Holzsplitter und vergammelte Orangenschalen, die er auf dem Boden findet. Heute werden 40 % unserer Lebensmitteln weggeworfen, in westlichen Ländern kann man ganz normales, genießbares Essen aus den Mülltonnen von Supermärkten fischen. Die Überflussgesellschaft unserer Zeit hat das lebensbedrohende Potential von Hunger und Unterernährung minimiert. Selbst wenn du auf der Straße lebst, wirst du vermutlich nicht an Hunger sterben.

Ich glaube, wenn man nie davon betroffen war, kann man sich den Zustand und die Folgen des Hungerns nur schwerlich ausmalen. Aber das Buch erzählt nicht nur vom Hunger, sondern auch von anderen inneren Kämpfen, dem Streben nach künstlerischer Anerkennung und zwischenmenschlicher Liebe. Und das sind Kämpfe, die alle Menschen ausfechten.

Seite aus „Hunger“ (Avant-Verlag)

Sie werden als einer von einer Handvoll Comickünstler auf der Frankfurter Buchmesse sein und und beim diesjährigen Ehrengast-Programm Norwegens Comiclandschaft repräsentieren. Können Sie uns etwas über die Comicszene in Ihrer Heimat erzählen?
In meiner Wahrnehmung ist die norwegische Comicszene ziemlich prominent und aktiv – zumindest in Relation zu unserer Einwohnerzahl. Einer der Gründe dafür ist, dass wir eine wahnsinnig gute staatliche Förder-Infrastruktur haben. Die verschiedenen Stipendien, die es in Norwegen gibt, geben den Künstlern die Möglichkeit, mehr Zeit und Energie in ihre Projekte zu stecken. Ohne staatliche Förderungen wäre Norwegen kulturell ärmer. Inhaltlich und künstlerisch ist die Palette so breitgefächert, dass es schwerfällt, die Comiclandschaft in eine einzelne Schublade zu stecken. Viele Zeichnerinnen und Zeichner orientieren sich an Vorbildern aus den USA, aus Frankreich oder Japan, in ihren Geschichten behandeln sie dann aber Themen, die typisch norwegisch sind. Die Leserinnen und Leser beschäftigen sich gerne mit Themen, die das kulturelle Erbe Norwegens behandeln, sei es in der Kunst, der Folklore, in Geschichten über Widerstandskämpfer, Nostalgie und generell geschichtlichen Themen. So gesehen passe ich mit „Hunger“ genau in diese eine spezielle Schublade, mit meiner Darstellung der norwegischen Hauptstadt um 1880 herum.

Können Sie uns noch etwas über die Farbgebung in „Hunger“ erzählen? Größtenteils überwiegen ja monochrome, düstere Farben, in die immer wieder grelle, bunte Kolorierung reinplatzt. Wie haben Sie die Farbgebung narrativ eingesetzt?
Die Kolorierung verdeutlicht für den Leser den Wechsel zwischen Realität und Einbildung, zwischen der objektiven und der subjektiven Ebene. Ich setzte Farbe sehr spärlich ein, meistens nur ein paar Tupfer Gelb hier und Rot da. Am Anfang des zweiten Kapitels breche ich mit dieser Technik. Das ist eine Passage, die auch im Roman heraussticht, wo der Protagonist vollständig eins wird mit seinen Wahnvorstellungen von Ylajalis Schloss. Mein Ziel war es, diese Szene so bunt und grell wie möglich zu inszenieren, damit sie im harten Kontrast zu der Wirklichkeit seiner Lebensumstände und dem Ton des Buchs an sich steht.

Haben Sie eine Vorstellung davon, für welche Art von Leser*innen Sie schreiben, wenn Sie ein Projekt angehen? Für wen haben Sie „Hunger“ gemacht?
Ich versuche genau das zu vermeiden, weil ich es als hinderlich empfinde, mit einer bestimmen Leserschaft im Hinterkopf zu schreiben und zu zeichnen. Ich versuche eher etwas zu erschaffen, das mich als Leser inspirieren würde. Wenn ich etwas mache, das mir Spaß macht, dann wird ein Bruchteil dieser Freude durchscheinen – das ist mein Motto. Ich hoffe, dass jede Leserin und jeder Leser nach der Lektüre meines Comics versteht, was mir Knut Hamsuns „Hunger“ bedeutet.

Seite aus „Hunger“ (Avant-Verlag)