Alte Helden in verdreckten Städten – „Minivip & Supervip“

Dreckig ist sie geworden, die Welt. Oder besser: die Luft. Deren Verschmutzung liegt bei fast 100 %. Es gibt kaum noch Natur. Grund: Autos. Jede Familie besitzt etliche davon, die Straßen sind permanent verstopft, der Verkehr kollabiert regelmäßig, Hupen ertönen allerorts. Und statt die Autopest einzudämmen, kauft sich die Bevölkerung Gasmasken, um weiter fahren zu können. Auch die Industrie unternimmt nichts gegen die verdorbene Umwelt und macht lieber Geschäfte damit. In dieser Welt leben zwei Superhelden-Brüder. Der eine, Supervip, kann alles, fliegt, ist muskulös und stark, wie Superman eben. Der andere, Minivip, dagegen ist klein und unscheinbar, trägt eine Brille und kann mit seinen Flügelchen allenfalls einige Zentimeter über dem Boden schweben. Das war’s. Während Minivip glücklich mit seiner naiven und stets gut gelaunten Nervustrella zusammen ist, die ihr erstes gemeinsames Kind erwartet, bläst Supervip Trübsal ob seiner verflossenen Lisa, der er immerzu nachtrauert.

Bruno Bozzetto (Autor), Grégory Panaccione (Zeichner): „Minivip & Supervip“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2019. 288 Seiten. 39,80 Euro

Auf der Straße findet Minivip eines Tages eine Art Taschenlampe und nimmt sie mit nach Hause. Was er nicht wissen kann: Die Lampe ist ein Hin-und-weg, eine Art mobile Beam-Maschine, mit der man augenblicklich an einen beliebigen Ort reisen kann. Das Gerät stammt vom Planeten Sparky, wo es immer regnet und feucht und klamm ist. Dort herrscht eine Art weibliches Krötenmonster, das sich „Fruchtbar für immer“ nennt, despotisch über seine Untertanen. Wir erfahren, dass die Verschmutzung der Erde von langer Hand über Jahrzehnte vorbereitet wurde. Denn „Fruchtbar für immer“ plant eine Invasion des vormals blauen Planeten mit den bereits gelegten hunderttausenden Eiern, die nur in verpesteter Atmosphäre gedeihen und schlüpfen können. Doch ehe die Operation beginnen kann, muss das verlorene Hin-und-weg wieder gefunden werden, dann davon gibt es auf Sparky nur vier Stück. Zu diesem Zweck entsendet man erst den stohdummen Sterminator auf die Erde und danach den schmächtigen Bierverkäufer (!) Willie, der auch bald Bekanntschaft mit Minivip macht. Derweil leitet man auf Sparky die Invasion der Erde ein…

Bruno Bozzetto ist ein italienischer Zeichentrick-Künstler, der – Jahrgang 1938 – seit den sechziger Jahren aktiv ist. Seine bekannteste Figur, die auch die Älteren unter uns kennen dürften, ist Signor Rossi, der in diversen Kurzfilmen und Serien im deutschen Fernsehen in den Siebzigern als Herr Rossi das Glück suchte. Aber auch Zeichentrick-Kinofilme gehen auf das Konto von Bozzetto. Mit einem davon, unter dem deutschen Titel „VIP – Mein Bruder, der Supermann“, nahm er schon 1968 parodistisch u. a. das Superhelden-Genre aufs Korn. Jetzt, geschlagene 50 Jahre später, ist im Splitter Verlag eine Fortsetzung des Films bzw. ein neues Abenteuer mit dessen Helden in Comic-Form erschienen, wieder unter der „Regie“ von Bruno Bozzetto und mit Zeichnungen des Franzosen Grégory Panaccione, der mit der Graphic Novel „Ein Ozean der Liebe“ nach einem Szenario von Wilfrid Lupano (ebenfalls bei Splitter erschienen) auch hierzulande von sich reden machte.

Der voluminöse Band – immerhin 280 Seiten dick – ist v. a. eines: ein großer Lese-Spaß. Weniger eine Parodie, wie noch der Film, stellt das neue Abenteuer mit den Vips eine wunderbare Ausgeburt der Fantasie dar. Gespickt mit wilden, skurrilen, humorvollen Einfällen und Ideen, wahlweise charmant und/oder rasant erzählt. Hintergrund ist die verdreckte Welt als aktueller Bezug, in der Autos Trumpf sind, obwohl man zu Fuß inzwischen schneller vorankommt. Auch Minivip spürt die Macht der Auto-Industrie. Als er einem Firmenboss stolz seine fliegende Multi-Funktions-Kugel präsentiert, die ohne Antrieb bzw. Energie funktioniert, wird er unter einem Vorwand kaltgestellt. Der depressive Supervip trifft derweil auf einen bekannten Film-Affen, der gerne auf Wolkenkratzer klettert, Sing Song heißt und sich äußerst distinguiert und eloquent ausdrückt. Und auf Sparky sorgt die Prozedur des Eierlegens immer wieder für Schmunzler.

Superhelden, Umweltverschmutzung, Müllproblem, sprechende Affen, Aliens – Bozzetto und Panaccione machen herrlich respektlos vor nichts Halt und verwursteln Motive, die so gar nicht zusammenzupassen scheinen. Tun sie hier aber. So macht der Band von der ersten Seite an tierisch Spaß, als italienischer Funny, ganz ohne Disney-Hintergrund, auch mit ernsten und parodistischen Tönen. Die Zeichnungen sind sehr aufwendig: Die opulenten Hintergründe (die eindringlich dargestellte Verschmutzung in den Städten), vor denen die Akteure agieren, wirken wie gemalt, vermitteln Zeichentrick-Atmosphäre und damit eine künstlerische Verwandtschaft zum Film von 1968, ohne altmodisch zu wirken. Riesige Sprechblasen schweben über ausladenden Panels, die mitunter ganze Doppelseiten füllen. Ein Band, der gute Laune verbreitet. Gerne mehr davon.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Minivip & Supervip“ (Splitter Verlag)