Henri Cartier-Bresson war ein leidenschaftlicher Fotograf; einer, der das Leben in der Welt in sorgsam komponierte Bilder fasste, weil er die Welt mit Sorgfalt betrachtete und weil er in jedem Moment etwas Besonderes sah: die Exotik des afrikanischen Lebens, die heiteren Spiegelungen im verregneten Paris oder das flirrende Licht in Spanien. Das machen die schwarz-weißen Comicbilder von Sylvain Savoia schon auf den ersten Seiten deutlich. Fotografieren bedeutet Freiheit, heißt es. Umso abrupter endet diese Freiheit mit dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich.
„Die Nachricht der Niederlage brachte mich dazu, etwas zu vergraben, was seit 1932 stehts an meiner Seite war: meine Leica.“
Die Kamera vergrabenJean-David Morvan erzählt von den Erlebnissen des Fotografen zwischen Besatzung und Befreiung – und das sieht ganz und gar nicht so heiter und leicht aus wie viele der Alltagsfotografien von Cartier-Bresson. Die Graphic Novel zeigt das Gemetzel in den Schützengräben, Cartier-Bressons elende Zeit im Gefangenenlager der Deutschen. Aus dieser Zeit gibt es keine Fotografien des Künstlers, die Kamera hatte er schließlich in Frankreich vergraben. Sylvain Savoia erfindet, wie die Gefangenen von der Freiheit träumen und wie sie Karten für ihre Flucht zeichnen.
„Unglaublich – zeichnen sie das alles aus dem Gedächtnis?“
„Nach einer alten Karte der Armeeführung, ja.“
Tatsächlich flieht Cartier-Bresson zusammen mit einem Freund. Die Bilder, die Sylvain Savoia dazu zeichnet, sind inspiriert von den Fotos Cartier-Bressons, von denen viele im Anhang abgedruckt sind und dieses Gefühl von Freiheit vermitteln: Wie Cartier Bresson sich im Comic am Strand räkelt, so räkeln sich auch die Menschen auf seinen Fotos am Strand, die Luft flirrt ganz ähnlich. Und dann auch hier wieder ein Bruch – der Strand war nur ein Tagtraum, Cartier-Bresson wird gefasst, und es braucht noch zwei weitere Fluchtversuche, bis er sich nach Frankreich durchschlagen kann und sich auf dem Land versteckt.
„Die Solidarität an diesem abgeschiedenen Ort war schier unglaublich. Und ich denke, dass es dieses Antlitz von Menschlichkeit ist, dass ich in meinen Portraits wiederzufinden suche.“
Fotografien inspirierten die Zeichnungen
Henri Cartier-Bresson buddelt seine Kamera wieder aus und fotografiert wieder; dokumentiert die Zerstörungswut der Deutschen auf ihrem Rückzug nach der alliierten Landung in der Normandie, die noch ein letztes Mal viele Tote fordert. Und er will sehen, wie es in Deutschland nach dem Krieg aussieht. Der Comic steigt in diese Sequenz mit dem bekanntesten dieser eher unbekannten Cartier-Bresson Fotos ein: Eine Inhaftierte des KZ Dessau schlägt eine Frau, die sie als Spitzel an die Gestapo verraten hat.
„Die Menschen, denen durch ihresgleichen so viel Leid zugefügt wurde, hätten sie auf der Stelle gelyncht. Aber zum Glück waren die Alliierten vor Ort und sorgten dafür, dass Recht vor Rache stand.“
Der Comic „Cartier-Bresson, Deutschland 1945“ zeigt die menschlichen Verwerfungen, die der brutale Krieg mit sich gebracht hat. Und er zeigt den Fotografen als einen Menschen, dessen Leben von diesem Krieg geprägt ist und der immer seinen einfühlsamen fotografischen Blick bewahrt. Auch als er keine Kamera mehr hat. Dafür findet der Comic immer wieder Bilder, die ganz ähnlich berühren wie die Fotos von Cartier-Bresson.
Dieser Text erschien zuerst am 04.02.2020 in: Deutschlandfunk
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.