Als politische Karikatur ein mediales Machtinstrument war

Selbstporträt André Gills (Taschen)

Bevor Fotografien in den Massenmedien Einzug hielten, beherrschten Illustrationen die Zeitungen. Ein Streifzug durch ein vergessenes Kapitel der Pressegeschichte.

Es war eine folgenreiche Attacke: Am 17. November 1867 erschien auf dem Cover der französischen Satirezeitung „La Lune“ eine Karikatur Napoléons III. Das ganzseitige Bild zeigt den Kaiser als ein Mischwesen aus Aal und Mensch, halb „Rocambole“, ein damals bekannter dandyhafter Serienheld, halb Sträfling – als Anspielung auf des Kaisers zwielichtige Vergangenheit als Putschist. In der einen Hand hält er galant eine Rose, in der anderen einen Dolch, mit dem er ein blutendes Herz aufgespießt hat, das er mit fratzenartigem Blick betrachtet.

Gerade 14 Tage zuvor war auf dem Titelblatt von „La Lune“ eine Zeichnung erschienen, in der der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi den Papst zu Boden wirft, beide dargestellt als halbnackte Ringer. Das war die erste Übertretung des damals geltenden Karikaturverbots für politische Themen von nationalem Belang. Die Verunglimpfung des Kaisers schließlich besiegelte das Ende von „La Lune“ – und begründete den Aufstieg des legendären Zeichners André Gill zum Star des Widerstands und späteren Mitglied der Pariser Kommune.

Kämpfe gegen Korruption und Zensur

André Gill, der mit seinen charakteristisch überdimensionalen Köpfen auch als Comic-Pionier gilt, ist nur einer von vielen kompromisslosen Illustratoren, die der opulente Taschen-Band „History of Press Graphics. 1819–1921“ aus der Vergessenheit holt. Die Epoche, die bestimmend für die Pressegrafik war, verortet Alexander Roob, Illustrationsforscher und Autor von „History of Press Graphics“, in der Zeit zwischen den ersten satirischen Kampagnen William Hones um 1819 und 1921, nach dem Ersten Weltkrieg, als Zeitungen zunehmend Fotografien einsetzten. Der Aufstieg der illustrierten Presse war eng verknüpft mit politischen Kämpfen gegen korrupte Monarchen, Zensur und soziale Missstände, was auch zur Gründung der ersten großen Nachrichtenillustrierten wie der wöchentlichen „The Illustrated London News“ 1842 führte.

Bevor die Fotografie so ausgereift war, dass sie schnell im Druck verwendet werden konnte und zum integralen Bestandteil von Druckmedien wurde, beherrschten grafische Berichterstatter den illustrativen Part der Zeitungen, auch Special Artists oder kurz Specials genannt. Sie lieferten nicht nur Zeichnungen vom Geschehen, sondern recherchierten auch vor Ort, was sich „in manchen Fällen zu veritablen Forschungsarbeiten mit geo- und ethnografischen Schwerpunkten“ auswuchs, wie Roob schreibt.

Ein eingestürztes Haus, ein Hotelbrand, ein entgleister Zug: Die Specials trugen teils äußerst ausgefeilte Zeichnungen zu den jeweiligen Berichten bei. Daneben finden sich auch kunstvolle Erklärgrafiken wie etwa ein im Holzschnittverfahren hergestellter, ganzseitiger Querschnitt durch den Untergrund einer Londoner Straße samt Kanal, Wasserleitung, U-Bahn-Schacht und Transportsystemen, erschienen 1865.

„Substanz und Schatten“ (1843) des „Punch“-Chefzeichners John Leech (Taschen)

Mächtigster Polit-Kommentator

Ein Star unter den jungen Specials war Thomas Nast. Er begann als klassischer Bildreporter, bevor er zum Vater des politischen Cartoons in Nordamerika avancierte. Er dokumentierte für amerikanische Gazetten Garibaldis Einzug in Neapel und lieferte Zeichnungen von den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkrieges für „Harper’s Weekly“, die auflagenstärkste Nachrichtenillustrierte. Mit einer Kampagne gegen den Korruptionsring des New Yorker Senators William Tweed stieg Nast Anfang der 1870er-Jahre zum „mächtigsten politischen Kommentator der Vereinigten Staaten“ auf, schreibt Roob. „Im Gegensatz zur schreibenden Zunft war der Zeichner Nast in der Lage, mit seinen Polemiken auch die Massen der Einwanderer zu erreichen, die des Lesens kaum oder gar nicht kundig waren, deren Stimmen aber wahlentscheidend sein konnten.“

Nebenbei hatte Nast erheblichen Einfluss auf die amerikanische Populärkultur: Die Tierembleme der beiden großen Parteien gehen ebenso auf ihn zurück wie die Symbolfigur des Uncle Sam und das Dollarzeichen als grafisches Symbol. Auch Vincent Van Gogh, dessen Leidenschaft für politische Karikaturen Roob ein ganzes Kapitel widmet, zählte zu den Fans von Nast. Darüber hinaus bereitete Nast der amerikanischen Comickultur den Boden. Er nahm sowohl Walt Disneys zoomorphes Cartooning vorweg als auch die Anti-Disney-Kunst eines Robert Crumb, der sich wiederholt auf Nasts Vorbild berufen hat, wie Alexander Roob darlegt.

Grafische Avantgarde

Wenn man den knapp fünf Kilo schweren, 600 Seiten dicken Wälzer durchblättert – sofern man sich nicht ständig in einzelnen Seiten verliert –, ist die Ausdruckskraft, die Widerständigkeit, die Kunstfertigkeit, der Witz und die Spitzfindigkeit, die in die Zeichnungen gesteckt wurden, aus heutiger Sicht schlicht überwältigend. Pressegrafische Kunst zeichnete sich durch stilistische Flexibilität und ein breites Spektrum aus, schreibt Roob, „das neben dem Bereich des Dokumentarischen auch das politische Cartooning, die grafische Humoreske sowie Genre-, Science-Fiction- und Fantasy-Illustrationen beinhalten konnte“. Nicht unerheblich ist, dass Zeichnungen in dieser von Nationalismus und Kolonialismus geprägten Epoche zum Teil auch Stereotypen verfestigten.

Roob, Mitbegründer des Melton Prior Instituts in Düsseldorf, das sich der Geschichte der Reportagezeichnung und der Druckkultur widmet, betont die Überschneidungen zwischen Bildjournalismus und Karikatur, die sich erst ab den späten 1860ern auseinanderentwickelten. Er weist auch auf oft übergangene Zusammenhänge mit Sozialreportage, Malerei und Strömungen wie Surrealismus hin und sieht die Pressegrafik als Vorbotin der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts.

„Die Ordnungshüter“ (1904) von Gustav-Henri Jossot (Taschen)

Der großformatige Band versammelt die Werke anonymer und vergessener Zeichner ebenso wie Gustave Dorés Ausleuchtungen der Londoner Armenviertel und grafische Kunst von Jean Cocteau und Käthe Kollwitz als einer von wenigen Frauen. Es finden sich Perlen aus tonangebenden Satiremagazinen wie „Punch“ und „Simplicissimus“ genauso wie die politischen Parabeln von Wilhelm Busch und Vorstöße in die abstrakte Kunst. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der vorgestellten Zeichnungen in den Hotspots in Frankreich und im angloamerikanischen Raum erschien, integriert Roob einige Beispiele abseits der westlichen Kultur, etwa Hokusais karikatureske Bewegungsstudien und Kyosais politische Karikaturen.

Kreative Gegenwehr und Bilderstreik

Auf Hochtouren kamen die Zeichner oft dann, wenn sie unter Druck waren und die Federn erst recht spitzten. Die Kompromisslosigkeit war ein Risiko, wie das Beispiel von „La Lune“ und vielen anderen eingestellten und beschlagnahmten Publikationen zeigt. Zensurauflagen provozierten aber seit jeher auch kreative Umgehungen. Alfred Le Petit, Chefzeichner des führenden republikanischen Satiremagazins „Le Grelot“, stand unter doppeltem Druck. Er musste sich nicht nur gegen die staatliche Zensur, sondern auch gegen die interne Kontrolle durch seinen konservativen Verleger wehren. Nachdem die Vorzensur 1872 eine Karikatur zurückgewiesen hatte, die die Wehrfähigkeit der französischen Armee gegenüber dem Deutschen Reich anzweifelte, ersetzte Alfred Le Petit kurzerhand die Zeichnung durch eine Beschreibung derselben per Text und bildete nur das kompositorische Skelett der Seite ab.

Im Jahr 1877 trat die Pariser Zeitschrift „Le Don Quichotte“ infolge eines spektakulären Duells mit einem lokalen Präfekten in einen viermonatigen Bilderstreik. Es lohnte sich: Die Serie leerer Bilderrahmen und Titelseiten voller Text-Attacken anstatt von Bildern wurde legendär und endete, sobald der Präfekt von den Wählern aus dem Amt katapultiert wurde.

Die Aufhebung der Zensur in Frankreich im Jahr 1881 befeuerte Roob zufolge schließlich eine „Revolution der Illustration“. Es begann ein künstlerischer Aufbruch, der mit experimentellen Techniken wie Montage, Collage und comicartigen Bildfolgen einherging. Die Propaganda im Ersten Weltkrieg markierte einen späten Höhepunkt des Bildjournalismus und auch das Ende eines Zeitalters pressegrafischer Avantgarde, schreibt Roob. Sein Kompendium schafft es mühelos, diese Zeugnisse einer Zeit, als Illustrationen und Karikaturen noch einen komplett anderen Stellenwert und einen nicht unerheblichen Einfluss auf Gesellschaft, Politik und Kunst hatten, lebendig werden zu lassen. Und ermöglicht damit ungewohnte Perspektiven, die heute noch einen faszinierenden Sog ausüben.

Diese Kritik erschien zuerst am 30.09.2023 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.

Alexander Roob: Press Graphics 1819–1921 • Taschen, Köln 2023 • 604 Seiten • Hardcover • 60,00 Euro (mit Texten auf Deutsch, Englisch und Französisch)

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.