Geisterwelten und gesellschaftliche Umbrüche – „Shigeru Mizuki – Kindheit und Jugend“

Bei Shigeru Mizuki geht es immer um Kontraste. Das zeigt sich schon in den Episoden, die Mizuki aus seiner Kindheit und Jugend zeichnet: Seine Eltern stammen aus angesehenen Familien, die mit der Industrialisierung ihr Geld verloren haben. Shigeru etabliert sich in der Schule als Pupskönig, während die Eltern ihre Kultiviertheit pflegen, ein Kino aufmachen und immer knapp bei Kasse sind.

„Wir müssen nur mit dem nächsten Film einen Volltreffer landen. Genau! Diesmal entscheidest Du, welchen Film wir als nächsten zeigen. Die Intuition eines Laien ist viel Wert. Jemand wie ich, mit Kultur und Bildung, hat oftmals keinen Zugang mehr zum Geschmack der Massen.“

Trotz einiger robuster Humor- und Slapstikeinlagen hat Shigeru Mizuki mit dem ersten Teil seiner Autobiografie ein ungeheuer vielschichtiges Panorama über das Japan bis zum Zweiten Weltkrieg vorgelegt.

Tante NonNon und der Schneckenteufel

Tante NonNon zum Beispiel hat riesengroße Augen, das Haar zu einem strengen Knoten gelegt, sie betet vor jedem Schrein und vor allem: Sie erzählt so eindringlich von der japanischen Geisterwelt, dass diese für den kleinen Shigeru zum selbstverständlichen Teil seines Lebens wird. Tante NonNon sagt:

Shigeru Mizuki (Autor und Zeichner): „Shigeru MIzuki – Kindheit und Jugend“.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Reprodukt, Berlin 2020. 480 Seiten. 24 Euro

„Wer zu große Schnecken isst, verwandelt sich nachts in einen Schneckenteufel, einen Yokai. Wer den Waschzuber in der Küche nicht richtig putzt, zieht einen anderen Geist, also einen anderen Yokai an. Und hat man erst mal einen Yokai im Haus, folgen immer neue nach. Wer behauptet, dass es etwas nicht gibt, nur weil man es nicht sehen kann, der irrt gewaltig.“

Liebe zur japanischen Geisterwelt

Shigeru Mizuki hat der alte Tante NonNon aus der Nachbarschaft in den 60er Jahren eine eigene Manga-Serie gewidmet, in der er seine Liebe zur japanischen Geisterwelt zeichnet – und auch zu welchen Absurditäten diese mitunter führt. In seiner Autobiografie zeigt Mizuki, wie ihn diese Geisterwelt inspiriert hat: zum Zeichnen und auch dazu, eigene Geschichten zu erfinden.

„Mir gefällt Azuki Hakari, von dem Tante NonNon erzählt hat. Er haust im Dach und wirft Azuki-Bohnen auf den Dachboden, was komische Geräusche macht. Die Geräusche werden immer lauter und dann plötzlich kommt eine Hand von der Decke!“

Schweißperlen über karikaturenhaften Gesichtern

Seine beiden Brüder verschreckt der kleine Shigeru Mizuki damit so sehr, dass sie sich nachts nicht mehr alleine aufs Klo trauen. Dann flitzen sie so schnell zurück in ihre Betten, dass sie Rauchwölkchen hinter sich herziehen und dicke Schweißperlen über die karikaturenhaft einfach gezeichneten Gesichter laufen.

Die Hintergründe zeichnet der Mangaka dagegen mit so ausgefeilten Schwarz-weiß-Schraffuren, dass jedes einzelne Blatt an den Bäumen zu flirren scheint. Während er seine Brüder verschreckt, schnappt der kleine Mizuki Gesprächsfetzen auf.

„Die japanische Invasion ist nicht rechtens. China gegenüber hat Japan aber behauptet, die militärischen Aktionen dienen nur der Wahrung der öffentlichen Sicherheit.“

So erzählt er, wie er als Kind allmählich mitbekommt, wie sich die japanische Gesellschaft im Umbruch befindet. Wie das nicht nur Statusverlust mit sich bringt, sondern mitunter so bittere Armut, dass Kinder als Arbeitskräfte verkauft werden. Und wie politische Wirren und japanische Geltungssucht auch vor dem Weltkrieg zu kriegerischen Auseinandersetzungen und einem Putsch führen.

Demütigungen als Soldat

Später informiert sich Mizuki selbst und erlebt die weitere Geschichte am eigenen Leibe: Er zeichnet also die ersten Erfahrungen auf, die er als Soldat in der kaiserlichen Armee macht – die Demütigungen, die er erfährt, weil er sinnlose Arbeiten machen muss und geschlagen wird. Über diese Zumutungen wird er nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Manga-Reihe zeichnen.

Die aktuelle Autobiografie macht die Zusammenhänge zwischen dem Leben und dem Werk von Shigeru Mizuki auf unterhaltsame Weise deutlich und ist ein Vergnügen für Kenner von Mizukis Werk – und ein guter Einstieg, um mehr über das Leben im Japan des 20. Jahrhunderts zu erfahren.

Dieser Text erschien zuerst am 16.04.2020 in: Deutschlandfunk

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Shigeru Mizuki – Kindheit und Jugend“ (Reprodukt)