„Storys, die so viele Jahrhunderte überdauert haben, sind für alle Zeit ein Quell, aus dem wir Dramen schöpfen“

Szene aus "Walhalla" (1986) (Koch Films)

1986 kam Peter Madsens Fantasy-Zeichentrickfilm „Walhalla“ in die Kinos und erwies sich in seinem Produktionsland Dänemark als Riesenhit. In Deutschland war der Erfolg etwas bescheidener, gleichwohl der Filmstart crossmedial begleitet wurde, etwa vom damals noch üblichen Comic zum Film. So wird man es damals jedenfalls vermutlich wahrgenommen haben, tatsächlich verhielt es sich, ähnlich wie bei den meisten heutigen Comicverfilmungen, umgekehrt: Der Zeichentrickfilm war die Adaption der Comicserie, für die Peter Madsen ebenfalls verantwortlich zeichnete. Der auf Phantastik spezialisierte, sauerländische Independent-Verlag Edition Roter Drache hat kürzlich eine fünfbändige bibliophile Gesamtausgabe von Madsens „Walhalla“ gestartet. Und auch der Zeichentrickfilm ist wieder erhältlich – als mit vielen Extras aufgewerteter Bonusteil der bei Koch Films erschienenen Ultimate Edition der 2019 realisierten, dänischen Realverfilmung von „Walhalla“. Das folgende Interview mit Peter Madsen ist im Beiheft dieser Edition erschienen und wurde uns von Koch Films mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.

Peter Madsen (Autor und Zeichner): „Walhalla. Die gesammelte Saga Band 1“.
Edition Roter Drache, Meschede 2020. 216 Seiten. 40 Euro

Ihre Comic-Bücher und der darauf basierende Animationsfilm „Walhalla“ halten sich sehr eng an die nordische Mythologie. Wie stehen Sie zu den nordischen Mythen? Welche Rolle spielen sie in unserer Kultur? Und was haben uns diese Mythen heute in einer Welt zu sagen, die vor so großen Herausforderungen und Gefahren wie dem Klimawandel steht?

Diese Frage ist nicht leicht in wenigen Worten zu beantworten. Die Wahrheit ist, dass diese Geschichten einfach Teil unserer Erziehung und Sozialisation sind. Meine Mutter hat sie mir abends vor dem Schlafengehen vorgelesen. Am Anfang waren wir ganz hingerissen von der ungeheuren erzählerischen Qualität dieser Geschichten: Drama, Pathos, Weisheit, Humor… Und wie es bei Mythen nun einmal so ist, verbindet auch die nordische Mythologie die archetypische Erfahrung des Menschseins und die Erfahrungen der Menschheit mit den metaphysischen Schichten der Existenz. Die nordische Version dieser Mensch-Gott-Erfahrungen ist unser Fundament. Nimmt man all die Götter (und Riesen) zusammen, hat man das, was einen Menschen ausmacht. Einschließlich der doppelzüngigen, verrückten Kreativität eines Loki…

Storys, die so viele Jahrhunderte überdauert haben, sind für alle Zeit ein Quell, aus dem wir Dramen, Unterhaltung und wichtige Wahrheiten schöpfen. Aber natürlich muss man sie in eine moderne Sprache übersetzen, und dies hoffentlich unter Hinzufügung neuer Schichten. „Walhalla“ war ein Teamwork mehrerer Personen: Dialoge und Witze von Hans Rancke und Per Vadmand, Storylines und Recherchen im Umfeld der nordischen Mythologie und der altnordischen Sprache von Henning Kure (diese Arbeit gewann im Lauf der Jahre an Bedeutung) – und was mich selbst angeht, ich habe mich auf das Erzählen und die Figuren konzentriert.

In der „Walhalla“-Serie haben wir auch gewisse „moderne” Themen behandelt wie die Rechte der Frauen und die Mauern und Gräben, die Menschen zwischen sich gezogen haben – Themen, die ihre Wurzeln bereits in den Mythen haben. Aber einen Bezug zu einem modernen Phänomen wie „Kampf gegen den Klimawandel“ kann ich nicht erkennen. Aus naheliegenden Gründen war dies nicht Teil der Originalgeschichten (einige Wissenschaftler äußern die Hypothese, dass der Ausbruch des isländischen Vulkans Katla in den Jahren 536, 540 und 547 eine jahrelange Umwelt- und Klimakrise auslöste, die als Hintergrund des Gedankens vom Fimbulwinter in die nordische Mythologie einging. Aber den Filmbulwinter als Schuld der Menschen – oder Götter – zu erklären, wäre ein bisschen weit hergeholt).

Seite aus „Walhalla. Die gesammelte Saga“ Band 1 (Edition Roter Drache)

Auch wenn die nordische Mythologie ziemlich dunkel erscheint, denkt man an Ragnarök oder den verheerenden Fimbulwinter, den Sie erwähnten, war Ihre Annäherung an das Thema höchst vergnüglich und amüsant. Macht diese Herangehensweise die nordische Mythologie annehmbarer für das Verständnis von Kindern und jüngerem Publikum?

In der romantischen Zeit, dem goldenen Zeitalter in Skandinavien im 19. Jahrhundert gab es eine Tendenz, Drama, Tragik und Heldentum der nordischen Mythologie zu betonen. Und die Götter wurden dargestellt als die Mächte des Lichts im Kampf gegen die Riesen und die Mächte der Dunkelheit. In unseren Comics wollten wir aber auch die unsympathischen Seiten der Götter aufzeigen und Riesen darstellen, die ihren eigenen Charme haben. Von Anfang an haben wir unser Walhalla auf menschlichen und komischen Details aufgebaut, von denen es in den Mythen reichlich gibt. Auch wenn wir uns in einer Welt voll Drama, Tragödie und Heldentum bewegen, haben wir unser Bestes getan, die Geschichte mit Humor zu erzählen – nicht um einem jugendlichen Publikum zu gefallen, sondern einfach weil Humor ein wichtiger Bestandteil der Mythen selbst ist. So mögen wir es in Walhalla! Und oft genug trägt der Humor beim Geschichtenerzählen ideal zu Drama und Tragödie bei…

Wie ist Quark entstanden? Was war die Inspiration für ihn?

Quark hat als einfacher Scherz begonnen. Der Name des ursprünglichen Riesen, aus dem die Welt hervorging, ist Ymir (im Dänischen häufig Ymer ausgesprochen). In den 1930er Jahren nannte ein Hersteller von Milchprodukten in Dänemark sein neues Sauermilchprodukt (eine Art Joghurt) „Ymer“, um darauf hinzuweisen, dass es echt nordisch ist. Als wir Kinder waren, gab es morgens gewöhnlich „Ymer“ zu essen – mit Haferflocken oder Müsli obendrauf. 1980, in einer Storykonferenz, erfanden wir aus Spaß neue Namen für Riesen, und Joghurt (oder Hjogurt) hörte sich gut an für einen Riesennamen! Zusammen mit anderen Milchprodukten… Damals wurde ein neues Milchprodukt in Dänemark eingeführt: Kvark, ein weiteres Sauermilchprodukt [mit mageren 10 Prozent Fett], das in kleinen Behältern verkauft wurde. Ich zeichnete ein bisschen herum: ein kleines, sauer und mürrisch blickendes Riesenkind und buchstabierte seinen Namen etwas anders. Und Quark war geboren!

Quark aus „Walhalla“ (1986) (Koch Films)

Ursprünglich sollte er nur eine Nebenfigur sein, aber dann bekam er eine größere Rolle im Manuskript für unser 4. Comicbuch. Dieses Skript diente als Grundlage für unseren Animationsfilm – und, wie bekannt, wurde aus Quark eine prominente Figur!

„Walhalla“ war in gewisser Weise der Grundstein der modernen dänischen Film-Animation, aber wir können uns vorstellen, dass dies mit jeder Menge Herausforderungen verbunden war, bevor der Film fertig war: kreativ und finanziell. War es Ihre erste Begegnung mit Animationsfilm, und wie sind Sie mit den Problemen einer Kunstform umgegangen, die damals Neuland für Sie war? Es muss wie ein Langstreckenlauf gewesen sein, vier Jahre vom Start bis zum Ziel.

Hmm. Das ist eine andere Frage, die nur schwer in wenigen Worten beantwortet werden kann! Als wir begannen, haben wir so gut wie nichts über die Herstellung von animierten Filmen gewusst. Aber wir hatten uns vorgenommen, den besten Animationsfilm aller Zeiten zu machen! Am Ende habe ich endlich begriffen, dass es allein schon eine Riesenleistung ist, so einen Film überhaupt fertigzustellen…

Die wichtigste Person bei der Herstellung der Filmversion von „Walhalla“ war Jeff Varab, ein ehemaliger Disney-Animator, der 1982 als Regisseur dieses Films anfing. Ich zeichnete das Storyboard, entwarf die Figurenmodelle (sie mussten verändert werden, damit sie besser in der Animation funktionierten), ich war Art Director – und legte die Layouts fest, zusammen mit Jeff, der alles andere übernahm, was mit der Animation zusammenhing. Nach zwei Jahren, 1984, verließ Jeff das Projekt, und die Regie fiel mir zu (wobei mir einer der Animatoren, Jørgen Lerdam, in allen animationstechnischen Fragen half – plus jeder Menge Unterstützung, die ich von einer Menge anderer Leute erhielt, zu viele, um sie hier zu nennen), bis wir 1986 durch waren. Neben seiner Regieaufgabe leitete Jeff eine Animationsschule in Kopenhagen gemeinsam mit unserem ersten Produktionsleiter, Jakob Stegelmann (und das schon vor Beginn der „Walhalla“-Filmproduktion), und von dieser Schule kamen eine Menge engagierter und hochtalentierter Künstler, die das ganze Projekt möglich machten. Leute, die auch heute noch in der ersten Reihe der Animation stehen.

Wir waren alle noch sehr jung (mit wenigen Ausnahmen wie Børge Ring), und so war es meistens “learning by doing”. Draußen in der Stadt, im Rest der Animationsindustrie, nannten die Leute uns den „Kinderkreuzzug“, und ich denke, sie meinten es nicht gut mit uns, als sie so was sagten…

„Walhalla“ – Ultimate Edition von Koch Films

Rückblickend kommen mir ein paar Redewendungen in den Sinn: Leute fragen immer, wie viele Zeichnungen so ein animierter Film hat. Das ist, als würde man einen Komponisten fragen, wie viele Noten er für seine Symphonie schreibt. Und: Hat er einen Assistenten, der ihm zur Hand geht, die Punkte in den Noten zu schwärzen? Möglicherweise wird er dann antworten, dass es wichtiger sei, wie diese Noten zusammen wirken, dass der einfache Prozess, sie aufzuschreiben, nichts dagegen ist, dass eine Menge verworfen wird etc. Das Gleiche gilt für einen animierten Film. Einer der Animatoren drückte es am Ende der Produktion so aus: Das Entscheidende ist nicht, wie viele Zeichnungen es braucht, so einen Film zu machen – sondern wie viele Nervenzusammenbrüche und Scheidungen zusammenkommen, bis er fertig ist…

Aber natürlich war es auch ein großes Abenteuer, daran teilzuhaben. Und ein Traum, der wahr wurde!

Hans Christian Andersen ist immer noch der bekannteste Name, wenn man auf dänische Märchen und Fantasy zu sprechen kommt. Spielte er auch in Ihrer Kindheit eine prominente Rolle?

Darüber kann ich jetzt nicht viel sagen. Natürlich sind mir die Werke von Hans Christian Andersen vertraut. Ich habe alle seine Märchen gelesen und ein paar von ihnen sogar illustriert, zum Beispiel:

Die Geschichte von einer Mutter (64 Seiten Comic):
http://www.petermadsen.info/pages/hom/som.html

Die kleine Meerjungfrau (voll illustriertes 64-Seiten-Buch):
http://www.petermadsen.info/pages/illustrationsopgaver/havfruen.html

Aber für Walhalla war er keine direkte Inspiration. Im Ganzen war ich bemüht, meine Inspiration mehr in den typisch alten und echten Märchen zu finden, den Volkserzählungen, der Folklore und der Mythologie.

Sequenz aus „Walhalla. Die gesammelte Saga“ (Edition Roter Drache)

Können Sie uns verraten, was Ihre Comic-Kunst beeinflusst, damals und heute? Wie stehen Sie zum amerikanischen Umgang mit der nordischen Mythologie, z.B. in „The Mighty Thor“ und anderen Comics?

Am Anfang waren es die klassischen frankobelgischen Comics: „Tim und Struppi“, „Asterix“, „Lucky Luke“. Mein großer Held war der belgische Meister Franquin („Spirou“, „Gaston“). Später kamen die modernen Abenteuerstrips dazu wie „Blueberry“ und „Valérian“ – und die Strips von Régis Loisel („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“, „Peter Pan“, „Das Nest“). Und natürlich die großen skandinavischen Illustratoren um das Jahr 1900: Theodor Kittelsen, Louis Moe und John Bauer. Und nicht zu vergessen die alten Disney-Filme!

Während der Herstellung des „Walhalla“-Films freundete ich mich mit dem amerikanischen Künstler Walter Simonson an. Er zeichnete zu der Zeit den Thor-Comic. Seine Arbeit, glaube ich, war inspirierend, denn obwohl das Stan Lee/Jack Kirby-Original ein Superhelden/Science-Fiction-Konzept ist, wusste (und weiß) Walter gut Bescheid in der nordischen Mythologie und hat dieses Wissen in den Comic eingearbeitet.

Ich habe einige andere Thor-Comics gelesen und ein paar Filme gesehen. Einige sind richtig aufregend und sehr schön gemacht. Aber was soll ich sagen – eine Menge erinnert mich mehr an die Renaissance und Shakespeare als an nordische Mythologie. Natürlich haben auch wir unsere eigene Sichtweise und nehmen uns Freiheiten mit dem Originalmaterial. Es sind zwei gegensätzliche Wege, mit Mythen umzugehen – die in zwei unterschiedlichen Kulturen wurzeln.

Was sind gegenwärtig Ihre bevorzugten Themen? Welche stellen die größten Herausforderungen dar? Gibt es ein Traumprojekt, das Sie unseren Lesern verraten mögen? Was dürfen wir in Zukunft von Ihnen erwarten?

Meine hauptsächliche Beschäftigung ist „Troldeliv“ (Leben der Trolle), eine Serie illustrierter Kinderbücher, die auf alter skandinavischer Folklore basiert und die ich zusammen mit meiner Frau, Sissel Bøe, mache. Mehr Informationen (in dänischer Sprache) und eine Menge Illustrationen finden Sie hier: http://www.troldeliv.dk

Aktuell arbeite ich an einem 120-Seiten-Comic, einer Dramatisierung der ersten 11 Kapitel des Buches Genesis. Wir haben vor, den Comic im Oktober 2021 zu veröffentlichen.

Filmposter „Walhalla“ (1986) (© Filmwelt Verleihagentur GmbH)