Die Freuden des Deliriums – „Juan Solo“

Die Verwirrung fängt schon beim Namen an – heißt er nun Alejandro Jodorowsky oder Alexandro? Ob der 1929 als Sohn russischer Eltern geborene Chilene mit den Wahlheimaten Frankreich und Mexiko nun eher spanisch oder nicht so spanisch geschrieben sein möchte, ist angesichts des Gesamträtsels Jodorowsky eher nebensächlich. Denn der ehemals so wilde junge Mann des Kinos und des Theaters, der Möchtegern-Surrealist, das leicht gagahaft auftretende Großmaul, das es unter einem „Meisterwerk“ nimmer tut, das enfant terrible der mexikanischen Filmszene, aus dessen erster Filmpremiere „Fando y Lis“ (1967) die Leute scharenweise aus dem Saal gerannt waren (den Regisseur hätten sie verprügelt, hätten sie ihn erwischt), der co-geniale Comic-Szenarist in Zusammenarbeit mit Moebius („John Difool“ resp. „Der Incal“), mit Boucq und mit anderen bedeutenden Zeichnern und der verlässlich aufrechte und unkorrumpierbare Pöbler gegen den guten Geschmack – ebenjenem ästhetiktheoretischen Gesamtalbtraum Alejandro Jodorowsky verdanken wir „Juan Solo“: Eine bizarre, delirante Comic-Saga in kreischenden Farben über einen Mann, der sich von ganz unten nach oben killt und dann am Kreuz stirbt, bevor er von seinem Todfeind kastriert werden kann.

Alejandro Jodorowsky (Autor), George Bess (Zeichner): „Juan Solo Bd. 1+2“.
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch und Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2008. Je 112 Seiten. Je 22,80 Euro

Back to the roots

Jodorowsky kehrt mit dieser vierteiligen (für die deutsche Ausgabe in zwei schön gemachte Prachtbände à zwei Teile zusammengefasst) Geschichte, die der Zeichner George Bess im klassischen französisch-italienischen Abenteuerstil mit ungewöhnlich brillanter Colorierung und explizit filmisch in Bilder gesetzt hat, zurück zu seinem größten Erfolg: Der post-meta-surrealen italowesternhaften Filmruine „El Topo“. Zum Maulwurf also, der ja bei Marx und bei George Bataille gegen den Surrealisten & Kommunisten André Breton gewendet seine metaphorische Rolle gespielt hat – aber das hier nur nebenbei: Allerdings, wer sich mit Film des Surrealismus und mit Luis Buñuel, mit Antonin Artauds „Theater der Grausamkeiten“ und mit Fernando Arrabal, Roland Topor und der „Groupe Panique“ beschäftigt, die allesamt auch mit Jodorowsky zu tun haben, wird auf solche Zusammenhänge auf Schritt und Tritt stoßen. Die Kulturen des letzten Jahrhunderts bis heute sind über die Meere und quer durch alle Künste, Gattungen und Genres fein verwoben. Diese Zusammenhänge sind da, sie spielen auch bei einem Comic eine Rolle…

„El Topo“ auf jeden Fall machte 1970 Jodorowsky zu einer Kultgestalt und den Film zu einem Kultfilm par excellence. Was ziemlich ironisch ist, wenn man das Werk gesehen hat und sich schon damals über seinen weitgehend sinnfreien wilden Eklektizismus irgendwo zwischen Sam Peckinpah, Sergio Leone und den Oberammergauer Passionsspielen amüsiert hat – und von der Brillanz mancher Bilder so beeindruckt war, dass man sie heute noch vor Augen hat.

Die Landschaften und das Setting nehmen Jodorowsky und Bess in „Juan Solo“ wieder auf, lassen aber die alten Sünden sein und erzählen diszipliniert und beinahe stringent eine Story, die sie „realistisch“ verankern und plot-mäßig plausibilisieren. Sie lassen die Geschichte in der Gegenwart eines namenlosen, mexiko-artigen Landes spielen, das von Narco-Baronen und Militärs beherrscht wird. Der Säugling, der noch nicht Juan Solo heißt, wird von einem auf den Strich gehenden, verkrüppelten Zwerg von der Müllkippe gerettet und aufgezogen. Auch Solo hat eine Missbildung, einen Hundeschwanz, der ihn zum Gespött in vielen demütigenden Situationen seines Lebens macht – die fetischhafte Besetzung von Verkrüppelung und Missbildung ist bei Jodorowsky topisch, Tod Brownings „Freaks“ und die ganzen einschlägigen Motivcluster von körperlicher Deformation und Verwundung bei Luis Buñuel sind da seine Referenzen.

Seite aus „Juan Solo“ (Splitter Verlag)

Vamos a matar

Bis Juan Solo kapiert, dass man nach oben kommt, wenn man seine Gefühle ausschaltet, sich mit der Macht gemein macht, schändet, verrät und betrügt und mordet, mordet und mordet. Das funktioniert so lange, bis Solo dann doch so etwas wie Sympathie oder gar Liebe entdeckt. Von da an geht’s bergab, eine Familiengeschichte schiebt sich in den Vordergrund, die alle family values mit Füßen tritt. Als alles ruiniert ist und kaputt, beginnt für Juan Solo die Wiederauferstehung als lokaler Heiliger, die in aparter karnevalistischer Verzwirbelung mit dem Tod am Kreuz endet.

Krasser Stoff, mit jeder Menge Sex und Gewalt, Suff, Koks und Blasphemie gebrochen durch die klaren Bilder, rückgekoppelt durch alle möglichen Bezüge zu ikonographischen Traditionen der populären, religiösen und „hochkulturellen“ Art: vom Western bis zur Landschaftsmalerei, vom Gangster- und Abenteuerfilm zu den Mythen und Realien des nördlichen Lateinamerikas. Dazu ironische Verarbeitungen von katholischem Dogma und indianischer Tradition, von Diktatorenroman und Revolutionsepos, von Italowestern und Pistolero-Balladen neueren Datums. Der Soundtrack zu so etwas käme vermutlich von Calexico auf Mescal, die narco-corridos gröhlen.

Zurückgenommen und fürs breite Publikum entschärft ist da nichts. Der gute Geschmack – überhaupt ein breitenkompatibler guter Geschmack der gebildeten Stände – ist bei Jodorowsky/Bess höchstens dazu da, ständig ignoriert zu werden. Der Exzess – auch farblich – lauert immer in dieser extrem vergnüglichen Graphic Novel.

Genre tut weh

Auf dem Gebiet der kriminalliterarischen Prosa ist das Gegenstück Gabriel Trujillo Muñoz mit seinen bunten, comic-haften, schrillen und bizarren Storys aus der Baja California und von der frontera – auch er nicht zufällig ein Mexikaner, der mit allen Möglichkeiten „populärer“ Formen arbeitet. Wie Trujillo Muñoz riskieren auch Jodorowsky/Bess mit „Juan Solo“ die Missbilligung derer, die zufrieden sind, aus „Genre“ ein flutschiges, glattes Verkaufsschlagerchen zu machen. „Genre“, im einen und im anderen Fall und gar als Hybrid wie „Juan Solo“, tut hier noch weh und provoziert Reaktionen.

Nicht sehr erstaunlich aber ist, dass solche Vitalitätszeichen nicht aus Zentraleuropa kommen, sondern von dem Kontinent, dessen avantgardistische und innovative Potentiale immer noch sträflich unterschätzt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.09.2008 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „Juan Solo“ (Splitter Verlag)