Gequälte und geschundene Leiber – „Little Tulip“

„Little Tulip“ heißt der (hierzulande noch) neueste gemeinsame Comic von Jerome Charyn und François Boucq. Es ist die dritte (nach „Teufelsmaul“ und „Die Frau des Magiers“) und lange erwartete Zusammenarbeit zweier kongenialer Köpfe.

Jerome Charyn (Autor), Francois Bouq (Zeichner): „Little Tulip“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2015. 88 Seiten. 19,80 Euro

„Kleine Tulpe“ ist der Ehrenname, den sich der Meistertätowierer Pawel unter den Verbrechern in einem stalinistischen Gulag verdient hatte. Jetzt, 1970, arbeitet er als genialer Phantombild-Zeichner für die New Yorker Polizei. Seine schon fast magischen Künste sind umso mehr gefragt, als eine Serie von Morden die Handschrift ukrainischer Gangster trägt. Seine Gegenwart und seine Zukunft verweben sich über die Kontinente. Im Lager hatte er als Kind das Zeichnen und dann das Tätowieren gelernt, um überleben zu können. Und so springt auch die Handlung zwischen diesen beiden Lebensabschnitten hin und her. Der Mythomane und Visionär Charyn verbindet dabei ein paar seiner Lieblingsthemen: Das Schicksal der osteuropäischen Einwanderer – aus solch einer Familie stammt er selbst -, das unsichtbare, extrem gewalttätige, von ominösen Mächten durchzogene New York, die Beschädigungen, die totalitäre Systeme Menschen antun und die Macht der Kunst.

Auf Pawels Körper ist sein ganzes Leben eintätowiert – Ray Bradburys „The Illustrated Man“ grüßt deutlich -, und in der ästhetischen Qualität der Zeichnungen steckt pure Magie, die notfalls sogar sehr handgreiflich werden kann. Boucq, der viel von Giraud/Moebius gelernt, aber einen unverkennbaren Personalstil entwickelt hat, setzt die phantasmagorische Story in die passenden Bilder um. Doppelt tricky hier, weil das gezeichnete Buch auch ein Buch über das Zeichnen ist. Daraus keinen Meta-Comic zu machen, sondern in sehr eindrucksvollen Bildern (nicht zu vergessen die Colorierung) die jeweiligen Atmosphären des Lagers, des Moskau der 1930er Jahre (wo das Unglück anfing) und das New York der 1970er einzufangen, dass es den Leser nachgerade anspringt, ist ziemlich genial. Boucqs gequälte und geschundene Leiber, seine Porträts von Tätern und Opfern und vor allem der „gesprenkelten“ Charaktere unterstreichen die notwendige Brutalität der Handlung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der „Leichenberg“-Ausgabe 07/2015 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „Little Tulip“ (Splitter Verlag)