Der Blick wird nie gebrochen – „Esthers Tagebücher“

„Ich liebe meine Mutter sehr. Aber komisch, ich finde, sie hat nicht viel mit meinem Vater gemein,“ sinniert Esther. „Ist doch schön, dass eine wie sie jemanden gefunden hat, der ihr Kinder macht.“ Dies ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, um zu schlucken. Aber auch um zu erwähnen: Esther gibt es wirklich. Ihre Tagebücher sind ein Langzeitprojekt von Riad Sattouf („Der Araber von morgen“). Einmal pro Woche lässt er sich von der Tochter eines Freundes aus ihrem Leben erzählen und verarbeitet ihre Geschichten zu Comics. Dabei ergibt sich keine zusammenhängende Erzählung, sondern einzelne Vignetten. Manchmal wiederholen sich darin Informationen, das hat einen praktischen Grund: zuerst erscheinen die Geschichten einzeln abgedruckt in der französischen Wochenzeitschrift „L’Obs“, einmal pro Jahr gibt es einen Sammelband. In Deutschland ist nun der zweite Band erschienen (Mittlerweile sind bereits vier Bände erhältlich, Anm. d. Red.), Esther ist darin elf Jahre alt. Wenn alles gutgeht, wird Sattouf sie bis zu ihrem 20. Lebensjahr begleiten.

Riad Sattouf (Autor und Zeichner): „Esthers Tagebücher“. Bislang 4 Bände.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2017-2020. Je 56 Seiten. Je 20 Euro

Grundsätzlich unterscheiden sich Stil und Konzept von „Esthers Tagebücher 2: Mein Leben als Elfjährige“ nicht vom Vorgänger: Fast immer sind die Geschichten auf einer Seite in zwölf Panels aufgeteilt, einzelne Farben akzentuieren die Szenen, Sattouf verpasst den meisten Figuren unabhängig von Alter und Geschlecht dümmliche Gesichter. Seine scharfe Beobachtungsgabe lässt keinen Zweifel: Kinder können unbarmherzig und grausam sein, nicht selten auch schrecklich nervig. Esther selbst trägt manchmal diese Züge, wenn sie zum Beispiel von unbeliebten Klassenkameraden erzählt oder wiederholt darauf zu sprechen kommt, dass ihr Vater ihr die ultimative Insignie der Zugehörigkeit im Club der Beliebten verwehrt: ein iPhone6.

Es gibt noch einen anderen Comiczeichner mit reportagenhaftem Stil, der sich in einem Langzeitprojekt regelmäßig mit Kindern beschäftigt: Guy Delisle, der in seinen „Ratgebern für schlechte Väter“ die Erlebnisse mit dem eigenen Nachwuchs in kurzen Szenen dokumentiert. Bei ihm geht es um die Wahrnehmungswelt des unvollkommenen Vaters – hier um die des Kindes, dessen Eltern immer nur die Rolle spielen, die Esther ihnen zugesteht. Dass Sattouf so konsequent bei Esthers Perspektive bleibt, hat ihm in Erlangen den Max-und-Moritz-Preis für den besten internationalen Comic für „Esthers Tagebücher 1: Mein Leben als Zehnjährige“ eingebracht. Christian Gasser lobte in seiner Laudatio: „In zwanzig Jahren gehören ‚Esthers Tagebücher‘ zur Standardlektüre angehender Soziologen; wir haben das Privileg, diese Serie sozusagen live zu lesen – und einiges zu erfahren über unsere Zeit.“

Tatsächlich wird Esthers Blick nie gebrochen – was sie falsch versteht, erklärt auch Sattouf nicht. Dabei geht es längst nicht nur um Stars und iPhones. „Esthers Tagebücher“ sind oft heikel, kindlich naiv, manchmal widersprüchlich: Esther verwechselt rechte und linke Gesinnungen, an den Rändern dringen die Pariser Terroranschläge in ihre Welt vor. Die gefilterte Perspektive auf das aktuelle Weltgeschehen wirft uns Leser auf uns selbst zurück. Es ist an uns, Esthers geringes Wissen mit den richtigen Ereignissen zusammenzubringen. Uns daran zu erinnern, wie es sich als Kind anfühlte von schlimmen Dingen zu erfahren, die man nie so richtig verstand, diese diffuse Angst.

Erinnern auch daran, wie leicht es als Kind oft war, endgültige Urteile zu fällen. Von Esther selbst stammen lauter kleine Bemerkungen neben den Sprechblasen und ihr älterer Bruder Antoine kommt darin überhaupt nicht gut weg. Immer bleibt ihm nur die Rolle der vulgären Dumpfbacke. So unterhaltsam das ist – man fragt sich schon, welche Auswirkungen die Tagebücher auf die Familie haben, wie sich das Projekt auf lange Sicht entwickeln wird. Vielleicht lässt Esthers Mitteilsamkeit mit zunehmendem Alter nach oder ihr wird das eigene Auftreten in den früheren Bänden peinlich. Der Autor scheint sich dieser potentiellen Fallstricke selbst bewusst, im zweiten Band neigt er deswegen zur Halbtransparenz.

Da steht eines Tages ein eifriger Journalist vor Esthers Haustür und fragt sie über die Arbeit an den Comics aus. Ob das wirklich alles der Wahrheit entspräche. Und nerve es sie nicht, wenn ständig dieser Zeichner anruft? Bei seinen Fragen schwingt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Sattoufs Konzept mit. Etwa an der behaupteten Authentizität, die sich natürlich nie hundertprozentig bestätigen lässt. Man muss sie einfach annehmen, schwer fällt das nicht. Skepsis wohl auch gegenüber der Tatsache, dass ein erwachsener Mann überdurchschnittlich viel Zeit mit einem jungen Mädchen verbringt, das nicht seine Tochter ist. Aber Esthers Unbekümmertheit ist das beste Argument dafür, sich guten Gewissens an der Reihe zu erfreuen, so lange es sie gibt. Ihr selbst fällt nur eine skandalöse Falschinformation aus dem ersten Band ein, die in ihrem zwölften Lebensjahr so gar nicht mehr der Wahrheit entspricht: „Rapunzel von Disney ist nicht mehr mein Lieblingsfilm. Danke.“

Diese Kritik erschien zuerst am 15.06.2018 auf: CulturMag

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Esthers Tagebücher“.

Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.

Seite aus „Esthers Tagebücher Band 4“ (Reprodukt)