Viertausend Meter. So tief auf dem Meeresgrund in der Yukatanstraße liegt ein Goldschatz, geladen auf einem amerikanischen Frachter, der die Reichtümer ursprünglich nach Kuba schaffen sollte und in einem Sturm sank. Das Wrack gilt als unerreichbar, bis der amerikanische Milliardär Joe Kens seine Chance wittert. Die naht in Form des französischen Wissenschaftlers Professor Claudian, der in der Akademie der Wissenschaften eine phantastische Aussage trifft: Er habe ein Material erfunden, das der Schwerkraft entgegenwirkt und so Objekte mit unglaublicher Macht antreiben kann. Die Kollegen verlachen Claudian als Scharlatan, aber Kens glaubt an den störrischen Forscher. Ausgestattet mit unerschöpflichen Mitteln, gelingt Claudian in einer Fabrikhalle in Louisiana in der Tat der Durchbruch: Er entwickelt eine Substanz namens Radio-Fulgurit, das als Antrieb in eine spezielle Tauchglocke eingebaut wird, die selbst dem größten Druck standhalten soll.
Mit diesem futuristischen U-Boot namens Fulgur machen sich Kens und Claudian auf dem Weg Richtung Yukatanstraße, wo sie vom gewaltigen Panzerschiff Goliath aus aufbrechen in Richtung Tiefe. Mit von der Partie sind der Ingenieur Paul Focas, der Chefmechaniker Canuche Darset, der Abenteurer Maraval und der Journalist Marcel Beyllier, der das Geschehen für die Öffentlichkeit aufzeichnen soll. Bald nach dem Start des Tauchgangs allerdings läuft die Expedition aus dem Ruder. Die Goliath wird von einem Vulkanausbruch versenkt, das Verbindungskabel ist gekappt, und die Fulgur stürzt in eine schier endlose Felsspalte. Claudian, Kens und die restliche Besatzung müssen feststellen, dass sie in einem gewaltigen Felsendom eingesperrt sind, wo sich auch das Wrack der Goliath findet. Von dort aus kann man zwar Proviant und Waffen herbeischaffen, aber auch das kann die Mannschaft kaum rüsten für die monströsen Bewohner der Tiefe, die auf die Fulgur lauern…Christophe Bec liefert hier eine wunderbare Hommage an gleich zwei Klassiker der phantastischen Literatur: die Expedition auf den Grund des Meeres atmet natürlich den Geist von Jules Vernes Referenzwerk „20.000 Meilen unter den Meeren“, komplett mit viktorianisch anmutender Technik, gusseisernen Taucheranzügen, tatkräftigen Seeleuten (Maraval könnte ein direkter Verwandter von Vernes Ned Land sein, der Professor Aronnax auf der Nautilus begleitet) und fürchterlichen Riesenkalmaren, die die Abgründe durchstreifen. Mindestens ebenso freizügig bedient sich Bec – der ja schon in der „Vergessenen Welt“ eine schöne Adaption einer weiteren archetypischen Adventure Story von Arthur Conan Doyle fabrizierte – außerdem bei einem anderen Prototypen der phantastischen Literatur: „Hätte man mir gesagt, ich würde zum Mond fliegen, wäre das für mich kaum aufregender gewesen“, stellt Dartel zu Beginn der Expedition vielsagend fest – sowohl die Form der Fulgur (eine gepanzerte Kugel) als auch der blumige Name Radio-Fulgurit grüßen zu den „First Men In The Moon“ von H. G. Wells hinüber, in denen Professor Cavor mit dem ebenso launig benannten Wundermittel Cavorit die Schwerkraft aufhebt und Richtung Mond schwebt.
Den getreulich mitschreibenden Journalisten, dessen Notizen auch optisch abgehoben teilweise die Erzählung bestreiten, kennen wir ebenso schon aus der „Vergessenen Welt“, wie auch die Technikgläubigkeit im Streit mit der Natur einen wohlig vertrauten Zug dieses Genres ausmacht. Somit eine wunderbare Erinnerung an die Sonntags-Matinee im ZDF, bei der wir – ausnahmsweise! – manchmal schon morgens schauen durften, wenn Kirk Douglas in der knallbunten Disney-Version des Verne-Tiefseeabenteuers der (sichtlich aus Gummi bestehenden) Riesenkrake zu Leibe rückt. Im besten Sinne traditionell erzählt und von Dejan Nenadov (der als seine weitere Inspiration die Grusel-See-Geschichten von William Hope Hodgson wie „Men of the deep Waters“ nennt) kongenial gestaltet, auch optisch bestechend im viktorianischen Stil gehalten, komplett mit kupferstichartigen Illustrationen zur Markierung der einzelnen Kapitel, ergänzt „Fulgur“ wunderbar die breite Palette an Hommagen an die großen Utopien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die der Splitter Verlag in Form der H. G. Wells-Reihe und der „Vergessenen Welt“ vorgelegt hat. Band 2 („Die Überlebenden der Finsternis“) und 3 („Verbrannte Erden“) kommen hoffentlich bald.
Dieser Text erschienen zuerst auf Comicleser.de.
Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.