Die Geschichte ist bekannt: Da reist ein braver Brite nach Transsylvanien, um für einen rumänischen Grafen einen Immobiliendeal in London einzufädeln – nicht ahnend, dass er damit einem blutsaugenden Monster den Weg in die zivilisierte Welt bereitet, dem beinahe auch seine Verlobte zum Opfer fallen wird. Diese Geschichte wurde schon so variantenreich erzählt, dass die Figur des Grafen Dracula auch für weingummisüße Halloween-Späße taugt.

Georges Bess: „Dracula“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 208 Seiten. 39,80 Euro
„Die, die diese Festung vor Jahrhunderten erbaut hatten, mussten sehr mächtig gewesen sein. Nun war der Ort dem Verfall preisgegeben“, heißt es an einer der vielen Textstellen, die Georges Bess aus dem Roman übernommen hat. Ein Schloss, das für die Ewigkeit gebaut wurde, ist in seinen Grundfesten erschüttert – der Mensch Jonathan ist es auch. Denn das, was er im abgelegenen Schloss Dracula erblickt, ist ebenso fremd wie beunruhigend: Hinter verbotenen Türen warten Vampire, die lüstern ihre Münder aufreißen. Und die maroden Schlossgänge wirken so beklemmend eng, als würden die sich wie ein Gefängnis um Jonathan legen. Tatsächlich verbietet ihm der Graf, sein Zimmer zu verlassen und schließt sogar die Tür ab. Doch zugleich ist Jonathan wie gelähmt. Seine Versuche zu entkommen wirken nur halbherzig. Als Dracula ihn erwischt, braucht der nur eine Hand auf Jonathans Schulter legen und ihn behutsam zurück in sein Zimmer führen.
„Dracula“ zeigt, wie einer Macht über Menschen bekommt und wie Menschen sich dieser Macht hingeben, weil sie selbst so verunsichert sind. Man müsste Flügel haben, wenn man diesem Ort entkommen wollte, stellt Jonathan irgendwann fest. Georges Bess greift das Bild des Fliegens immer wieder auf: der Schwarm Möwen, der vor der Küste Englands Freiheit verheißt, ist ganz ähnlich gezeichnet wie der Schwarm Fledermäuse über Draculas Schloss, der von Unheil kündet. Wie durch ein Wunder wird Jonathan dem Schloss entkommen. Er wird sich dem Schrecken des Dracula stellen – mithilfe von ein paar Freunden und von Professor Van Helsing, der der Bedrohung zunächst mit wissenschaftlicher Recherche und Analyse begegnet. Diesen Teil zeichnet Georges Bess so gradlinig und geordnet, dass der Kampf gegen das Monströse bewältigbar erscheint. Es ist ein Vergnügen, dem Comickünstler durch die Stile zu folgen, die trotz aller Unterschiedlichkeit wie aus einem Guss wirken.
Besonders gut ist Bess immer dann, wenn Schreckliches droht. Die Zeichnungen laufen unausweichlich auf einen Fluchtpunkt zu, der schauriges zum Ziel hat: Totenköpfe, Fledermäuse oder die Wand, die den Weg versperrt. Georges Bess seziert mit messerscharfen Federzeichnungen die Vielschichtigkeit der Dracula-Vorlage und schafft einen Grusel, der einem Schauer über den Rücken jagt – und zugleich angenehm vertraut wirkt.
Dieser Artikel erschien zuerst als Hörbeitrag am 20.12.2020 auf: SWR2 Lesenswert Magazin
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Dracula“ (Splitter Verlag)