Lektion in Aufsässigkeit

Weit entfernt von den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs verbringen die Dreizehnjährigen François und Eusèbe ihre Jugend in ihrem westfranzösischen Heimatdorf. Aber Pustekuchen. Nach dem Waffenstillstand zwischen der deutschen und französischen Regierung im Juni 1940, der einer französischen Kapitulation gleichkam, halten die Soldaten der Wehrmacht Einzug in das französische Hinterland und wecken bei der Bevölkerung angsterfüllte Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. François und Eusèbe üben sich in Gelassenheit. Und Aufsässigkeit.

Als die deutschen Soldaten durch das französische Dorf marschieren, beschließen die beiden, den Besatzern keine Aufmerksamkeit zu gönnen, sondern demonstrativ ihr kindliches Würfelspiel am Wegesrand fortzusetzen: „Vor allem will ich denen das Gefühl geben, sie wären nur Luft.“ Tatsächlich erstaunt dies einen der Soldaten, aber die beiden sind klug genug zu erkennen, dass das (ganz buchstäbliche) Wegschauen ihr Problem nicht löst, wie so oft im Leben – #AFD #Corona #Kapitol. Damit setzen sie um, was der General Charles de Gaulle (und späterer französischer Staatsminister) aus dem englischen Exil forderte: sich den deutschen Besatzern zu widersetzen. Eine Radioansprache de Gaulles am 18. Juni 1940 gilt als Gründungsmoment der französischen Résistance der Zivilbevölkerung: „Was auch immer geschehen mag, die Flamme des französischen Widerstandes darf nicht erlöschen und wird auch nicht erlöschen.“

Benoît Ers (Zeichner). Vincent Dugomier (Autor): „Die Kinder der Résistance 1: Erste Aktionen“.

Aus dem Französischen von Mathias Althaler. Bahoe Books, Wien 2020. 60 Seiten. 16 Euro

Man kommt in diesen Tagen nicht umhin, den Kontrast zwischen diesem pathetischen Appell an die Freiheit und dem selbstgerechten Aufruf eines amerikanischen Präsidenten zu betonen, der seine Demokratiefeindlichkeit als notwendigen Widerstand deklariert: „We will never give up. We will never concede. It is not going to happen.“ Dieser „Widerstand“, den man in mehrfache Anführungszeichen setzen möchte, gebärdet sich dort („Stop the Steal“) wie hier („Wir sind das Volk“) als ein Aufbegehren gegen ein behauptetes Unrecht. Wenn die Unterschiede zwischen einer Jana aus Kassel, die sich als moderne Sophie Scholl inszeniert, und der französischen Résistance nur nicht so haarsträubend wären…

Gerade deshalb ist die Widerstandsgeschichte, die Dugomier und Ers erzählen, so wichtig: Angesichts der mutigen Résistance, deren Akteure tatsächlich alles aufs Spiel setzten, wird die blinde Wut des hetzenden Mobs als das entlarvt, was sie ist. Solche obskuren Selbsteinschätzungen, die sich im Sophie-Scholl-Vergleich von Jana aus Kassel ebenso offenbaren wie im KZ-Vergleich von Michael Wendler, sind nämlich keine Geschmacklosigkeiten. Das wäre nur eine Petitesse, weil Geschmacksurteile letztlich doch belanglos sind. Sie sind Ausdruck eines Bildungsproblems. Deshalb ist der pädagogische Ansatz von Ers und Dugomier lobenswert, zumal die Erzählung selbst nicht lehrmeisternd daherkommt.

Man muss mehr tun als nur wegschauen, merken François und Eusèbe, und so beschließen sie unter Einsatz ihres Lebens, den deutschen Soldaten das Leben schwerzumachen. Sie verbünden sich mit Lisa, einem Mädchen, das von belgischen Flüchtenden zurückgelassen wird und das etwas zu verbergen hat… Überhaupt haben die Figuren sehr individuelle Züge und geraten dadurch sehr lebensnah.

Die Bedrohung der französischen Zivilbevölkerung bleibt im ersten Band meist sehr abstrakt: Propaganda, Drohungen und Sachbeschädigung. Die kindliche Abenteuerwelt bleibt zunächst unangetastet von den Schrecken des Weltkriegs – kein einfacher Spagat, den Ers und Dugomier zwischen historischer Akkuratesse und den Anforderungen an das junge Publikum, das die Bände (auch) erreichen wollen, versuchen – laut Lombard Kinder ab neun Jahren.

Benoît Ers ist als Zeichner so erfahren wie Dugomier als Szenarist, und die beiden Freunde arbeiten gern und oft an gemeinsamen Projekten („Muriel et Boulon“, 6 Alben, 1995-2001; „Les Démons d’Alexia“, 7 Alben, 2004-11). „Les Enfants de la Résistance“ hat es seit seinem Serienauftakt bei Lombard im Mai 2015 auf sechs Bände gebracht, deren zunächst letzter im Januar 2020 erschienen ist. Die ersten Bände sind in bis zu sieben Auflagen erschienen, und 2018 hat Lombard die einzelnen Alben zu Integral-Ausgaben herauszugeben begonnen. Fast schon erstaunlich, dass es so lange gedauert hat, bis die Serie ins Deutsche übertragen worden ist.

Der französische Verlag bietet außerdem pädagogisches Material auf seiner Webseite an sowie Material für eine Ausstellung für Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren. Die Comics selbst enthalten – im Original ebenso wie in der deutschen Ausgabe – einen siebenseitigen Appendix mit historiografischen Hintergrundinformationen.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Sequenz aus „Die Kinder der Résistance“ (Bahoe Books)