Sehr viele Molltöne

Pincus Pleatnik ist so unauffällig, dass sich niemand an ihn erinnern kann. Er mag das. Er arbeitet, in Dampfwolken gehüllt, als Bügler und führt ein Leben als „unsichtbarer Mensch“. Als eines Tages seine Todesanzeige in der Zeitung steht, glaubt ihm niemand, dass er noch lebt. Und so stirbt er, von der gesamten Gesellschaft ignoriert und ausgeschlossen, eines banalen echten Todes. „Unsichtbare Menschen“ ist ein Zyklus des großen Comic-Künstlers Will Eisner. Eine Noir-Story vom Finstersten, obwohl Noir nirgends auf Eisners Comics draufsteht. In der „Will-Eisner-Bibliothek“ sind seine „Großstadtgeschichten“ erschienen – mal längere Storys, mal nur kurze Momentaufnahmen aus dem Big City Life – entstanden seit den 1980er Jahren bis zu Eisners Tod 2005.

Will Eisner: „New York. Großstadtgeschichten“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas C. Knigge. Carlsen, Hamburg 2011. 440 Seiten. 34 Euro

Die Geschichte vom armen Pincus Pleatnik ist nur ein Beispiel für die kühle Erzählhaltung Eisners, die sich in vielen Storys, Miniaturen und Episoden findet. Gewalt und Verbrechen sind dabei nicht „genre“-haft verteilt, sondern ubiquitäre Konstanten des Großstadtlebens und insofern mit allen anderen Aspekten des Lebens engstens verzahnt. Erbschleicher, Groß- und Kleinkriminelle, Säufer, Verkommene, Brutalos, Gleichgültige, Einsame und seltsame Heilige bevölkern New York City (und manchmal auch die Dropsie Avenue in der Bronx, die Eisner-Fans aus „Ein Vertrag mit Gott“ kennen), das nie nur NYC ist, sondern eine Art urbanes Welttheater.

Selbst da, wo Eisner todtraurige Geschichten erzählt (und der Band enthält sehr viele Molltöne), zum Beispiel die von Monroe Mensh, der immer helfen will und nie wirklich helfen kann und sich am Ende umsonst opfert, sind der Ton, die Bilder, die Erzählsituation nie sentimental, sondern hart und direkt: hardboiled, nicht als kitschige Geste aus zweiter Hand, sondern im Sinne einer Perspektive auf die Welt – und genau deswegen sehr menschlich.

Über die sparsame und präzise Ästhetik von Eisners Bildern, von der Virtuosität, mit der er knapp und lakonisch erzählt, von seiner Kunst des Reduktionismus und Minimalismus, der weißen Räume und der Schattierungen von Schwarz müssen wir hier nicht schwärmen. Das alles kennen und schätzen wir an Will Eisner, der seit den Abenteuern des Cops Denny Colt alias „The Spirit“ ins Pantheon der Crime Fiction, Abteilung „Bilderwelten“ gehört.

„New York – Großstadtgeschichten“ ist zudem noch vorbildlich sorgfältig aufgemacht, mit Materialien gespickt und von Andreas C. Knigge wunderbar übersetzt. Fein!

Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.03.2011 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Sequenz aus „New York. Großstadtgeschichten“ (Carlsen)