Missgünstig, fast feindlich blickt der bräsig wirkende Fahrer aus der Kabine seines mächtig ausladenden LKW auf die daneben befindliche Radfahrerin herab. Diese wiederum scheint sich fest an den Lenker ihres Tourenrades zu klammern, mit starr geradeaus gerichtetem Blick, als wäre dies ihre einzige Chance, dieser unangenehmen Situation heil zu entkommen. Das sich über beide Umschlagseiten erstreckende Titelbild der Comicreportage „Der Trip“ scheint auf ein Thema zu verweisen, dass insbesondere in den deutschen Großstädten immer bedeutsamer wird – das virulente und spannungsgeladene Verhältnis zwischen motorisierten und nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern. (Nebenbei glaubt man hier auch eine sublime Übertragung des Menspreading-Phänomens auf einen Raum außerhalb der beengten Sitzmöglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs zu erkennen.)
Doch die in Berlin lebende japanische Comiczeichnerin und Illustratorin Nozomi Horibe hat mit ihrem beim Indie-Comiclabel Jaja Verlag erschienenen Buch weit mehr im Sinn. Ungefähr einen Monat bereiste sie per Drahtesel die ländliche Region rund um Berlin. Ihr „Trip“ führte sie durch Dörfer und Kleinstädte mit solch klingenden Namen wie Görlsdorf, Kaakstedt oder Sauen, aber auch durch malerisch daherkommende Naturlandschaften wie die Märkische Schweiz, die Uckermärkische Seenlandschaft oder den Dahme-Spreewald. So oder so, ein so langer Ausflug in das Berliner Umland (und im Grunde genommen kann man ja ganz Brandenburg als Berliner Umland bezeichnen) lässt jedenfalls die kommende Begegnung mit allen möglichen Formen von Andersartigkeit vermuten.Die Comicautorin, das merkt man gleich zu Beginn der Reportage, scheint ob dieser Aussicht nicht gerade umstandslos in Begeisterungsstürme zu verfallen. Albträume plagen sie in der letzten Nacht vor der Abreise, Zweifel überkommen sie, Angst überwiegt Vorfreude. Für eine asiatisch gelesene Frau aus der Großstadt, die allein durch die tiefste Provinz radelt, ergeben sich vielfältige Bedrohungslagen und -szenarien. Insofern ist hier der Titel des Comic natürlich auch ein Omen: Der Trip steht ja bekanntlich sowohl für den Ausflug bzw. die Reise als auch für die Erfahrung eines größtmöglichen Schreckens. Doch Nozomi Horibe zaudert nicht, dann wäre eigentlich auch schon alles gesagt, sondern packt das Pfefferspray in die Tasche und tritt in die Pedalen.
Die Frage ist nun, ob und wie sich das gleichermaßen ersehnte und gefürchtete, auf jeden Fall erwartete Ereignis – die Erfahrung von Alterität in unmittelbarer Nachbarschaft – einstellen wird. Und hier überzeugt nun der Comic in außerordentlicher Weise, weil Ort und Größe der Einzelpanel und Ansichten immer wieder in ein produktives Spannungsverhältnis gebracht werden. Wie gleich zu sehen sein wird, trägt das eine Mehrdeutigkeit in die Antwort auf die gestellte Frage ein. Über das Buch in lockerer Regelmäßigkeit verteilt dokumentieren ganz- bzw. doppelseitige Splashpanel Begegnungen mit der ganzen Exotik der märkischen Provinz in ihrer kultur- und naturräumlichen Beschaffenheit. Auffällig ist, dass diese Bilder immer wortlos bleiben und hinsichtlich der gewählten Ansicht eher distanziert. Dort wo die Panelfolgen enger rhythmisiert und in ein Grundraster von 3 Zeilen á 3 Panels gebracht werden – was den Großteil der Seiten betrifft – sowie Sprechblasen hinzutreten, wird aus Distanz und Sprachlosigkeit beinahe zwangsläufig Nähe und Kommunikation.
Die Wahrnehmung von Fremdheit weicht dann nämlich dem Blick in den Spiegel: Man trifft entweder auf von weither Zugezogene, die ihren Traum vom Leben auf dem Lande fernab vom Stress des Großstadtlebens zu verwirklichen suchen, oder man beobachtet, wie „echte“ Einheimische auf dem Aufmerksamkeitsmarkt in der „Gesellschaft der Singularitäten“ (so der Soziologe Andreas Reckwitz) jeweils ihr Angebot unterbreiten, um nicht abgehängt zu werden: ein Barfuß-Erlebnispark in Görlsdorf, ein japanisches Hipster-Cafe in Gerswalde, eine Wagyu-Farm in Kuhlhausen oder eine Trendsauna mit dem Spezialangebot „Brutal-Aufguss“ in der Prignitz – den viel zitierten ökonomisch und kulturell abgehängten ländlichen Raum stellt man sich irgendwie anders vor. Die Ursache dieser Verfehlung mag darin liegen, dass die Autorin aus Scheu Begegnungen mit „authentischen“ Brandenburger*innen lieber umschifft. (Eine Ahnung davon überkommt Nozomi Horibe im Laufe ihrer Reise freilich selbst.) Es könnte aber auch sein, dass die Vorstellung des ländlichen Raumes als dem kulturell Anderen der Metropolregionen ein vollkommen überzogenes, von großstädtischen Phantasmen schwer beladenes Klischee darstellt. Zutreffend ist letztlich wahrscheinlich beides.
Diese Kritik erschien zuerst am 05.04.2021 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.